Das Paradies war in der Teichgasse 6

Hedwig Hetemann und Johanna Straubing

Teichgasse 6

Die heutige Teichgasse. An der heute grünen Fassade konnte man früher die Reklame des Hetemannschen Ladens lesen.

Noch ein Knoten in die Gummibänder, festziehen, das überstehende Band abschneiden – und schon ist das geliebte Puppenkind wieder heil und voll beweglich.
Doch das Menschenkind ist verschwunden. Es konnte den hell schimmernden Glasmurmeln, den Brummkreiseln und den bunten Holztieren auf Rädern nicht widerstehen. In den Tiefen des kleinen Ladens untersucht es nun fasziniert einen Blechvogel, der hüpfen kann, wenn man ihn wie eine Uhr aufzieht. Der Besuch bei der Frau Hetemann ist immer aufregend, und die Kinder der Nachbarschaft bevölkern den Laden in der Teichgasse 6 oft auch ohne Reparaturanlass.
Die kinderliebe Ladeninhaberin heißt sie jahrzehntelang gern willkommen.
Eine Weimarerin spricht später noch mit Freude von diesen Besuchen: „Die Spielwarenhandlung der Puppenmutter Hetemann war für uns Kinder ein kleines Paradies. Wie gern und oft war ich als Kind dort.“1

Doch kommt die Hilfsbereitschaft der Puppenmutter auch Erwachsenen zugute: So erinnert sich eine Weimarerin an die Erzählungen ihrer Mutter, dass sie Anfang der dreißiger Jahre den dringend benötigten Kinderwagen nur dank Hedwig Hetemanns Hilfe noch bekamen – mittel- und arbeitslos wie sie waren, wollte sonst niemand das Risiko eingehen, ihnen den Wagen auf Raten zu verkaufen.

Ursprünglich gehörte das Geschäft Hedwigs Mann Franz Hetemann. Ihn zog es als jungen Mann zum sorgfältigen Handwerk der Buchbindekunst, er brachte es bis zum Buchbindermeister und übernahm schließlich doch das Tapisserie- und Wollwarengeschäft seines Vaters Karl Hetemann, ein Textilwarenhändler.

Die Anzeige im Adressbuch von 1900 zeigt die Vielfalt des Angebots.

Franz’ Vater hatte gelegentlich in Leipzig zu tun und machte dort wohl die Bekanntschaft der jüdischen Händlerfamilie Markus. Deren Tochter Hedwig ist um vier Jahre jünger als Franz, sie wird mit 34 Jahren zum Frühlingsbeginn 1900 seine zweite Frau. Wenige Minuten vor ihrer Hochzeit lässt sie sich in der Weimarer Herderkirche evangelisch taufen.

Die Stadtkirche zu Peter und Paul, um 1900.

Aus erster Ehe hat Franz drei Kinder, doch ist nicht überliefert, ob sie bei ihm aufwachsen. Hedwig bringt eine Tochter in die Ehe mit. Johanna, die am 2. Mai 1886 in Halle an der Saale geboren ist, erhält 1909 die Taufe und den Namen „Hetemann“. Gemeinsame Kinder bekommen Franz und Hedwig nicht.
Für reichlich Kinderlachen und heiteren Tumult sorgt dann allerdings die Erweiterung des Ladensortiments unter Hedwigs Beteiligung. Neben Textilien bieten die Hetemanns nun auch Dekorationsartikel, Kunstblumen, Schreibwaren, Puppen und Spielzeug an. Die Familie wohnt über dem Laden, bei ihnen lebt auch Franz’ Mutter Auguste bis zu ihrem Tod.

1913 heiratet Johanna Fritz Straubing, Sohn des Weimarer Buchdruckereibesitzers Adolf Straubing und seiner Frau Anna Alma. Es ist nicht bekannt, ob die Straubings sich zunächst in Weimar niederlassen oder in Limburg an der Lahn, wo Fritz Straubing vor der Heirat als Drogist tätig war. Doch sicher ist, dass die beiden in den zwanziger Jahren in Weimar leben und im Laden in der Teichgasse aushelfen.
Im November 1925 verliert Hedwig Hetemann ihren Mann. Sie führt das Geschäft zunächst allein weiter, später übergibt sie es offiziell Fritz Straubing. Dennoch denkt sie nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Noch im hohen Alter rettet Hedwig so einige Kinderpuppen durch Notoperationen.

Sie ist 72 Jahre alt und in der ganzen Stadt bekannt und beliebt, als ihr die Schaufenster eingeschlagen und das Geschäft zerstört werden. Der Laden gilt als das letzte jüdisch geführte Geschäft Weimars und zieht am 10. November 1938 die geballte Gewalt der SS und SA auf sich. Eine Zeitzeugin berichtet, sie könne sich „entsinnen […], dass eine Horde SS-Leute das Schaufenster der ‘Puppenfrau’ einschlugen und die darin ausgestellten Puppen auf die Straße warfen. Es blieb vom Geschäft nichts übrig als eben das demolierte Haus. Die Puppenfrau kam heraus, weinte, jammerte und bettelte, sie sollten ihr doch ihre Existenz lassen. Sie wurde verhöhnt und die SS-Leute wurden zum Teil ziemlich handgreiflich, so dass sich die Frau weinend in ihr Haus zurückzog.“2 Kein Nachbar und kein Kunde geht dazwischen.
Eine andere Frau erinnert sich an Betriebskollegen, die bei der SA waren: „Es war am Tag nach der Pogromnacht […]. An diesem Morgen kam einer von ihnen zu uns und erzählte uns von den Ereignissen in der Nacht. ‘Gestern haben wir aber aufgeräumt bei der alten Hetemann, dieser Juden… Das hättet ihr aber sehen sollen!’“3

Noch vor dem Novemberpogrom wird die Situation für die jüdischen (oder als jüdisch stigmatisierten) Bewohner Weimars immer bedrohlicher: 1938 wird in einem “Sonderbefehl” vom Lagerkommandanten Koch des KZ Buchenwald u.a. auf das Geschäft von Hedwig Hetemann aufmerksam gemacht – dieses sei von den im KZ Buchenwald beschäftigten SS-Angehörigen zu boykottieren. Die Liste erfasst nicht nur “jüdisch” geführte Geschäfte, sondern gibt auch Auskunft über Privatadressen. (LATh – HStA Weimar, NS 4 Bu 33 Teil 1, Bl. 92r)

Nach Fritz Straubings Tod 1940 oder 1941 ziehen sich Hedwig und Johanna in ihre Wohnung zurück. Das Kinderparadies gibt es nun nicht mehr, und es ist nicht bekannt, wie sich die beiden Frauen finanziell über Wasser halten können. Seit sie gezwungen sind, einen Judenstern zu tragen, wagen sie sich kaum auf die Straße. So berichtet eine Zeitzeugin vom Besuch Hedwig Hetemanns in ihrer Zahnarztpraxis: „Als der gelbe Stern eingeführt worden war, kam die alte Frau Hetemann zu mir wegen Zahnschmerzen. Da sie befürchtete, wegen des gelben Sterns angepöbelt zu werden, hielt sie die Handtasche vor den Stern. Sie wurde von mir wie immer behandelt. Es war erschreckend.“4

Anfang Mai 1942 muss Johanna Straubing den Gang zum Marstall auf sich nehmen. Der Deportationszug vom 10. Mai bringt sie ins Ghetto Belzyce. Sie gilt als im Distrikt Lublin verschollen.

Den Sommer verbringt die 76-jährige Hedwig Hetemann allein. Im September wird sie zusammen mit den meisten der verblieben Weimarer Juden nach Theresienstadt deportiert.

Der tschechische Maler František Mořic Nágl schaffte es, heimlich Aquarelle im Konzentrationslager Theresienstadt anfertigen und zu verstecken. Das Bild von 1942 zeigt die Enge der Unterkünfte. František Nágl und seine Familie wurden 1944 in Auschwitz ermordet.

Dort, im beschönigend „Altersghetto“ genannten Konzentrationslager, herrschen Unterernährung und Elend. Ungeziefer und der Mangel an Toiletten und Waschgelegenheiten führen zu Epidemien. Hedwig Hetemann lebt in stickiger Enge und ständigem Lärm – die Verhältnisse sind katastrophal, der Tod lässt nicht lange auf sich warten.
Sie stirbt am 23. Februar 1943.

Text: svdf

1 Ausstellung „Stolpersteine in Weimar“, Tafel Hedwig Hetemann

2 Müller/Stein: Familien, S. 131

3 Müller/Stein: Familien, S. 132

4 Müller/Stein: Familien, S. 148

Quellen:
Kirchenbücher der Herderkirche Weimar – mit Dank an Frau Eva Beck, Archivarin der Weimarer Stadtkirche
Erika Müller, Harry Stein: Jüdische Familien in Weimar, Stadtmuseum Weimar 1998
http://www.ghetto-theresienstadt.info/terezinghetto.htm (09.03.2016)
http://www.holocaust.cz (09.03.2016)
Ausstellung „Stolpersteine in Weimar“, Tafel Hedwig Hetemann – http://www.lernort-weimar.de/download/Ausstellung.pdf (01.03.2016)

Weitere Literatur:

Ulrich Völkel (Hg.): Stolpersteingeschichten Weimar, Weimar 2016, Eckhaus-Verlag

Bildnachweis:

Die Schwarzweissfotografien gehören zur Sammlung Magdlung, diese kann hier eingesehen werden.