Habe Dank für’s Brot in der Wüste

Martha Kreiß

Hummelstraße 3

Mit Schillers „Bist Du’s, mein Rabe?“ begrüßt Martha Kreiß allabendlich eine Freundin, die ihr einen Topf Essen bringt. Die alte Frau lebt nach dem Tod ihres Mannes und der Flucht ihres Sohnes allein in einer kleinen Kammer in der Hummelstraße 3, und sie freut sich in diesem kalten Winter 1942/43 über jede freundliche Geste.
Es ist die Zeit des „totalen Kriegs“, der nicht nur den Alliierten gilt, sondern auch all jenen, die nicht dem Menschenbild der Nationalsozialisten entsprechen. Nahrungsmittel werden knapp und rationiert, und Juden bekommen vom Wenigen kaum etwas ab: Die ihnen zugeteilten Lebensmittelkarten sind weniger wert, die polizeilich erlaubte Zeit für Einkäufe beschränkt sich auf eine Stunde – jene am Spätnachmittag, in der es kaum noch etwas gibt.
Auch Martha Kreiß gilt dieser Krieg. Als eine in Neuwied am Rhein geborene Goetzel stammt sie aus einer jüdischen Familie.

In diesem Winter ist die warmherzige Geste ihrer Freundin eine Spur der Sympathie, die der Familie Kreiß in Weimar bis zur Zeit des Dritten Reiches entgegengebracht worden sein musste.

Eintrag zu Dr. Kreiß im Weimarer Adressbruch von 1924.

Dr. Theodor Kreiß war als Schul- und Armenarzt in ganz Weimar bekannt und beliebt. Er behandelte oft unentgeltlich oder gegen geringe Vergütung Kranke, die sich einen Arztbesuch sonst nicht hätten leisten können. Die Kreißens hatten einen Sohn und lebten in der Hummelstraße 5.

1939 muss Martha Kreiß eine genaue Auskunft über ihr Vermögen und ihr Einkommen geben. (LATh – HStA Weimar, Der Oberfinanzpräsident Thüringen Nr. 708, Bl. 108r)
“Ich brauche mein Geld zur Entlastung meines 72jährigen arischen Ehemannes, der auch seinem kränklichem Sohn u. dessen arischer Famlie aushelfen muss.” – Martha Kreiß erhält monatlich 100 RM Rente und unterstützt davon ihren Mann, Sohn “Bubi” und dessen Familie. (LATh – HStA Weimar, Der Oberfinanzpräsident Thüringen Nr. 708, Bl. 108v)

Als ihr Mann Anfang Februar 1940 starb, blieb Martha mit 66 Jahren allein zurück. Ihr Sohn, von dem heute nur noch der Spitzname „Bubi“ überliefert ist, flüchtete wahrscheinlich noch Ende der dreißiger Jahre.

Martha Kreiß erhält nur noch beschränkten Zugriff auf ihr Geld. 1939 wird ihr “Freibetrag” auf 200 RM monatlich festgesetzt. Diese “Sicherungsanordnungen” ergingen 1939 an sehr viele Jüdinnen und Juden (vgl. Glossar). (LATh – HStA Weimar, Der Oberfinanzpräsident Thüringen Nr. 708, Bl. 112r)

Zwangsumzug in ein „Judenhaus“

In ihrer Wohnung durfte die Witwe nun nicht mehr bleiben. Die Gestapo nötigt sie noch im selben Jahr, ihr Zuhause zu verlassen und zur Sängerin Jenny Fleischer-Alt in die Belvederer Allee 6 zu ziehen. Deren Villa wurde zu einem sogenannten Judenhaus umfunktioniert. Dort lebten auch Ilka und Edith Gál – die Schwester und die Nichte Fleischer-Alts, vier alte Hausbedienstete, Käthe Friedländer, und im Dezember 1941 kam der Cellist Eduard Rosé hinzu. Die meisten Bewohner waren betagt, und außer Jenny Fleischer-Alt, die einen nur sehr eingeschränkten Zugriff auf ihr Vermögen hatte, waren alle mittellos.

Am 2. März 1942 bittet Martha Kreiß um die Aufhebung ihres Kontos, um Kontogebühren zu sparen. Als ihre Adresse gibt sie die Belvederer Allee 6 an. (LATh – HStA Weimar, Der Oberfinanzpräsident Thüringen Nr. 708, Bl. 117r)

Angesichts der drohenden Deportation wählten Jenny Fleischer-Alt und ihre Nichte Edith Gál im April 1942 den Freitod. Das „Judenhaus“ wurde aufgelöst, die Bewohner mussten umziehen, Käthe Friedländer ist deportiert worden. Martha Kreiß zog in die Hummelstraße 3, das Nachbarhaus ihres früheren Zuhauses, laut Karteikarte der Reichsvereinigung der Juden „bei [Rudolf] Hütter“, einem Schriftsteller.

Ein Lichtblick am Abend

Die letzten beiden Jahre ihres Lebens verbringt sie hier. Gegen die Einsamkeit kann die alte Frau nicht viel machen. Ablenkung, Beschäftigung, Zugehörigkeit werden ihr von der deutschen Volksgemeinschaft verwehrt: Juden dürfen kein Radio haben, keine Schreibmaschine, keine Zeitung oder Bücher kaufen, kein Haustier halten, abends nicht mehr auf die Straße gehen, kein Fahrrad oder Auto oder Bus fahren, und sie müssen die geballte Feindseligkeit eines antisemitischen Staates ertragen.

Eva Mühlbächer und Gustav Lewin am Ilmpark
Eva Mühlbächer und Gustav Lewin am Ilmpark (© Eva Mühlbächer)

In dieser feindseligen Situation ist eine freundliche Geste besonders viel wert. Die mit den Kreißens befreundete Familie Neuschild wohnt in der Hegelstraße 5, gleich nebenan, und in den Jahren ab 1942 schafft Eva Mühlbächer, Tochter der Neuschilds, jeden Abend ein Töpfchen mit Essen zu Martha Kreiß. Sie bringt sich und ihre Familie in große Gefahr: Jenen, die „in der Öffentlichkeit freundschaftliche Beziehungen zu Juden“1 zeigen, droht eine dreimonatige „Schutzhaft“. Wer ihnen Lebensmittel gibt, riskiert, ins Konzentrationslager zu kommen. Und doch: Jeden Tag aufs Neue zwacken die Neuschilds von ihrem Abendessen ein wenig ab, um der alten Frau zu helfen.

Flucht in den Tod

Am 12. Januar 1944 geht ein Deportationstransport nach Theresienstadt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Martha Kreiß die Aufforderung erhält, sich dafür im Marstall oder am Güterbahnhof einzufinden. Was nun geschieht, ist nicht zweifelsfrei geklärt.
In der Familie Neuschild heißt es, Martha Kreiß habe sich aus dem Fenster gestürzt, in großer Not, da sie hätte deportiert werden sollen. Noch lebend sei sie dann nach Belvedere gebracht und „zum Sterben abgelegt“2 worden. Aus Archivunterlagen geht lediglich hervor, dass sie am 14. Januar 1944 tot bei Belvedere aufgefunden wird.
Eine andere, plausible Erklärung ihres Todes ist, dass sie in ihrer Verzweiflung einfach losgelaufen ist, in die Eiseskälte des Winters 1944, und nahe Belvedere erfror.

Die Karteikarte der Reichsvereinigung der Juden zu Martha Kreiss ist eines der wenigen Dokumente, die zu ihr gefunden werden können. (Reichsvereinigung der Juden – Kartei, 12410008, ITS Digital Archive, Arolsen Archives)

1 https://www.lpb-bw.de/publikationen/pogrom/pogrom6.htm (14.4.2016)

2 Zitat aus einem Interview mit Eva Mühlbächer, Berlin 2013.

„Habe Dank für das Brot in der Wüste“ ist ein Zitat aus Friedrich Schillers „Die Räuber“.

Text: svdf

Quellen:

Erika Müller, Harry Stein: Jüdische Familien in Weimar, Stadtmuseum Weimar 1998
Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Der Oberfinanzpräsident Thüringen Nr. 708
Interview mit Eva Mühlbächer, Enkelin der Fam. Neuschild, Sammlung Lernort Weimar
http://weimar-im-ns.de (01.04.2016)
https://www.lpb-bw.de/publikationen/pogrom/pogrom6.htm (14.4.2016)

Weitere Literatur:

Ulrich Völkel (Hg.): Stolpersteingeschichten Weimar, Weimar 2016, Eckhaus-Verlag