Wo keine Würde ist, bist du die Würde.

Lucy Ortlepp

Ratstannenweg 21

Die Fotografie aus dem Jahr 1930 zeigt drei in luftigem Weiß gekleidete Frauen inmitten eines üppigen sommerlichen Gartens. Die beiden jungen Frauen im Vordergrund blicken von der Ernte auf und lächeln in die Kamera. Hinter ihnen führen Treppen einen kleinen Hügel hinauf, hin zu einem Haus mit klaren und einfachen Linien. Auf einer dieser Treppen steht die Malerin Lucy Ortlepp, selbstbewusst und entspannt blickt sie dem Fotografen entgegen – es ist ihr neues Zuhause, vor dem sie zu sehen ist. Das Haus befindet sich am Weimarer Ratstannenweg 21. Noch heute ist das Namensschild der Ortlepps an seiner Eingangspforte angebracht – in Erinnerung an die früheren Besitzer.
Als die Fotografie entsteht, ist Lucy Ortlepp 47 Jahre alt und angekommen in einem Leben, wie sie es sich wohl gewünscht hat. Doch wird sie nur noch wenige glückliche Sommer erleben.

Ein unbefangenes Leben

Am 2. Februar 1883 wird sie in Neubrandenburg in die wohlhabende Kaufmannsfamilie Bock geboren und begeistert sich schon früh für die Kunst. Eine reguläre Zulassung zu Hochschulen wird Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch nicht gewährt, und will eine Frau einen Beruf erlernen, so stehen ihr nicht viele Alternativen offen.

Doch die wenigen Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensplanung nutzt Lucy Bock konsequent: Mit 16 Jahren schon zieht es sie in die Großstadt, um dem von Frauen selbstorganisierten „Verein der Berliner Künstlerinnen“ beizutreten und ein Privatstudium der Kunst und Malerei aufzunehmen. Zwei Jahre darauf ist sie eine ausgebildete Zeichenlehrerin. Nun will sie sich die Welt anschauen und unternimmt Kunstreisen in die Schweiz, nach Italien und nach England. Für gutsituierte junge Männer stellen solche Bildungsreisen seit Jahrhunderten schon den Abschluss ihrer Erziehung dar, doch eine reisende Künstlerin ist um 1900 noch immer eine mutige Ausnahme.

Zurück in Berlin nimmt sie unter anderem bei Lovis Corinth, einem der bekanntesten deutschen Impressionisten, weiteren Unterricht. Ihr Interesse gilt vornehmlich Portraits und Stillleben, sie zeichnet mit Bleistift, Kreide, Rötel und Aquarellfarben.
Lucy gilt als liebenswürdig und freundlich, sie hat einen großen Freundeskreis. Es ist naheliegend anzunehmen, dass sie in ihren Berliner Jahren auf Paul Ortlepp trifft und sich in ihn verliebt. Die beiden teilen viele Interessen, studiert er doch in Jena, Heidelberg und eben auch in Berlin Kunstgeschichte, Philosophie und Sprach- und Literaturwissenschaft. Nach dem Studium arbeitet er als Volontär an der Weimarer Großherzoglichen Bibliothek (der heutigen Anna Amalia Bibliothek), schreibt nebenbei eine Doktorarbeit zur Geschichte der Ästhetik und bekommt 1907, nach Erlangung der Doktorwürde, eine Stelle als Bibliothekar. Im Winter 1908 heiraten Lucy und Paul Ortlepp, sie zieht zu ihm nach Weimar.

Die folgenden Jahre verbringen die Ortlepps gern in geselligen Runden und verfolgen interessiert auch die neuesten Bewegungen in Kunst und Kultur. Lucy gibt Zeichen- und Malunterricht, Paul Ortlepp ist ein engagierter Mitarbeiter der Bibliothek. 1927 wird er zum Bibliotheksrat ernannt, zur Feier seines 25-jährigen Dienstjubiläums im Jahr 1929 heißt es, er sei „unermüdlich dafür tätig […], die Verbundenheit der Bibliothek mit weiten Kreisen des geistigen Weimar immer tiefer zu begründen“.1 Die Bibliothek profitiert dankbar von den geistig und künstlerisch regen Freundschaften der Ortlepps.

Doch der kalte Wind, der Freigeistern im konservativen Weimar entgegenschlägt, wird im Laufe der 20er Jahre stärker. 1925 wird das Bauhaus aus Weimar vertrieben; 1929 zieht die NSDAP in den Thüringer Landtag ein, in Weimar erhalten die Nazis gar ein Viertel der Stimmen. Drei Jahre später werden es schon fast die Hälfte der Stimmen sein. Doch zu welchen Gräueltaten die Nazis bereit sind, das haben auch Lucy und Paul Ortlepp nicht geahnt: Sie kaufen 1930 das Haus am Weimarer Ratstannenweg 21. Dessen an das Bauhaus angelehnte Architektur ist in ihrer Modernität insbesondere für die Weimarer Baubehörde unerhört. Die Baugenehmigung mussten die Vorbesitzer mit Mühe erstreiten, da die Baupolizei „allgemein derartige Auswüchse im Hausbau verurteilt“.2

Und doch: Zuversichtlich richten sich die Ortlepps ihr neues Heim ein, bauen um, legen den Garten an. Sie empfangen häufig Besuch, viele Abende werden in fröhlicher Gesellschaft im Garten verbracht, und Lucy gibt ganz unkonventionell bis in den späten Abend Mal- und Bildhauerunterricht.

Wohnen unter Nazis

Die unbesorgten Tage sind bald schon vorbei. Das 1933 erlassene und fortwährend verschärfte „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ bewirkt zusammen mit einer sogenannten ungünstigen politischen Beurteilung im Herbst 1937 Paul Ortlepps frühzeitige Versetzung in den Ruhestand zum Ende des Jahres. Lucy, schon vor Jahrzehnten zum evangelischen Glauben konvertiert, wird als Jüdin eingestuft – und Paul ist nicht willens, sich von ihr zu trennen.
Die Beurteilung Paul Ortlepps ist verursacht durch Denunziationen eines Nachbarn. Die missbilligen, dass Paul Ortlepp den Hitlergruß nicht erwidert. Im Bericht, verfasst von Dr. Oberländer, der für den Thüringer Reichsstatthalter Sauckel arbeitet, und adressiert an den Thüringer Ministerpräsidenten, heißt es zudem:

„Frau Ortlepp und die im Haus weilenden jungen Leute haben sich im vergangenen Sommer nach dem Bericht sehr oft in einer den Anstand verletzenden leichten Bekleidung in [sic] völlig offenen Hausgrundstück vor den Nachbarn gezeigt. Dadurch haben sich die Nachbarn moralisch abgestoßen gefühlt. Im vergangenen Sommer sollen bei der Familie Ortlepp auch Juden ein- und ausgegangen sein. Den Gruß ‚Heil Hitler’ kennt Ortlepp nach der Auskunft nicht, er grüßt erst seit kurzer Zeit mit ‚Heil’.“3

Diese Worte enthüllen klar das Wesen des Denunzianten. Im Dritten Reich können Aussagen solcher Art zum Tode der Betroffenen führen.

Die Nachbarn fühlen sich von leichter Bekleidung “moralisch abgestoßen” … (LATh – HStA Weimar, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 22476, Bl. 75v)
… und im Sommer sollen bei den Ortlepps Juden ein- und ausgegangen sein. Nachbarn ist es offenbar auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass Paul Ortlepp nicht mit “Heil Hitler” grüßt. (LATh – HStA Weimar, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 22476, Bl. 75r)

Ausharren in einem Klima geistiger Enge

Jahre der antisemitischen Gängelei und Diffamierung folgen. Lucy Ortlepp verlässt kaum das Haus, doch ihren Stolz erhält sie aufrecht. Mehrmals wird sie 1939 aufgefordert, den zweiten Vornamen „Sara“ zu führen. Offenbar ist sie nicht bereit, sich ohne weiteres den Repressionen der Machthaber zu beugen.
Es muss für sie und ihren Mann schwer erträglich sein, zu einem stillen Leben in Zurückgezogenheit und Untätigkeit verurteilt zu sein – und sich der Willkür der spießbürgerlichen und opportunistischen NS-Volksgemeinschaft und ihrer Bürokraten ausgeliefert zu wissen. Was ihr Leben bisher geprägt hat, wird den beiden genommen: Selbstbestimmung, geselliger Austausch, die Möglichkeit zur schöpferischen Arbeit.

Das politische Klima wird so bedrückend, dass das Paar im März 1939 – er ist 60, sie 56 Jahre alt – in Betracht zieht, in die Schweiz zu emigrieren. Mangels finanzieller Absicherung – die zuständige Behörde lehnt ab, die Pension Paul Ortlepps in die Schweiz zu überweisen – scheitert dieser Plan. Die emanzipierte und selbstständige Lucy ist nunmehr völlig auf ihren Mann und seine Loyalität angewiesen, ein Machtgefüge, das viele „Mischehen“ belastet hat. Paul wiederum sieht sich von den Nazis vor eine zynische Wahl gestellt: Um ein kleines Stück gesellschaftlicher Teilhabe und Unabhängigkeit zurückzugewinnen, müsste er ihnen seine Frau ausliefern. Steht er weiterhin zu ihr, ist er gezwungen, mit ihr die ihr zugedachte Erniedrigung und Ausgrenzung zu erdulden.

Das aufgezwungene Untätigsein muss Paul Ortlepp sehr schwergefallen sein. Im Mai 1943 fragt er bei der Staatsbibliothek an, ob er seine Arbeitskraft in den Betrieb der Bibliothek einbringen kann. Ein handschriftlicher Vermerk auf einem diesbezüglichen Dokument in seiner Akte zeigt den Übereifer einiger Angestellter in ihrer „Pflichterfüllung“:

„Die Ehefrau von Dr. O. ist Jüdin. Deshalb ist Dr. O. in den Ruhestand versetzt worden. Zunächst wäre also zu entscheiden, ob aus diesem Grunde Einstellg. bei einer staatl. Behörde abzulehnen ist. Im übrigen käme nur eine zeitlich zu begrenzende Beschäftigung als Aushilfsangestellter in Frage, Mittel dafür sind vorhanden!“4

LATh – HStA Weimar, Personalakten aus dem Bereich Volksbildung Nr. 22476, Bl. 98r

Paul Ortlepps Gesuch wird abgelehnt.

Wenige Monate später wird Lucy Ortlepp von der Gestapo verhaftet und über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. Die genauen Umstände der Verhaftung sind ungeklärt, doch eine Weimarerin erinnert sich 1990 folgendermaßen:

„Dr. Ortlepp […] hat sehr auf sie aufgepaßt, hat sie fast nie allein gelassen. Aber eines Tages mußte er verreisen, da wurde von der Nachbarschaft bei der Gestapo angerufen, daß sie allein zu Hause sei. Da wurde sie abgeholt. Der Mann fand bei der Rückkehr die Wohnung leer vor, er war verzweifelt.“5

Am 30. August 1943 wird Lucy Ortlepp in Auschwitz ermordet.

1 Weber: Villen in Weimar, S. 204

2 Ebd., S. 200

3 LATh – HStA Weimar, Personalakte 22476, Blätter 8 und 9

4 LATh – HStA Weimar, Personalakte 22476

5 Ausstellung Stolpersteine in Weimar, Tafel zu Lucy Ortlepp

Der Titel entstammt dem Gedicht „Du“ von Erich Fried.

Text: svdf

Quellen:
Erika Müller, Harry Stein: Jüdische Familien in Weimar, Stadtmuseum Weimar 1998
Christiane Weber: Villen in Weimar, Bd. 2, Rhinoverlag, Weimar 1997
Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Personalakte aus dem Bereich Volksbildung Nr. 22476

Ausstellung Stolpersteine in Weimar, Tafel zu Lucy Ortlepp

Blogeintrag von Peter Rost zu Dr. Paul Ortlepp auf post-weimar.blogspot.com (20.05.2016)

Weitere Literatur:

Ulrich Völkel (Hg.): Stolpersteingeschichten Weimar, Weimar 2016, Eckhaus-Verlag