Zwischen Anwerbung und Vertreibung

1. Die jüdische Besiedlung des Thüringer Raums

Die Ansiedlung jüdischer Familien im Thüringer Raum orientiert sich lange Zeit an den Städten, die sich an der via regia aneinanderreihen – und insbesondere am Handelszentrum Erfurt. Die via regia verbindet Nordspanien mit Paris und Mainz, Brügge und Antwerpen mit Erfurt und Leipzig, und sie führt bis nach Kiew und Moskau. Eine ganze Reihe weiterer Handelsrouten, die nord-südlich durch Thüringen verlaufen, ergänzen sie.
Die ersten Juden und Jüdinnen ziehen wahrscheinlich im 12. Jahrhundert nach Thüringen. Sie kommen aus der Rheinregion, wo sie schon seit Jahrhunderten ansässig sind.

Karte von Europa im Jahre 814 – dem Todesjahr Karls des Großen, der Juden in seinem Reich besondere Privilegien bot.

(Charles Colbeck – The Public Schools Historical Atlas by Charles Colbeck. Longmans, Green; New York; London; Bombay. 1905)

Frühe Hinweise auf die Ansiedlung von jüdischen Menschen im mittelalterlichen Deutschland, das von Juden in dieser Zeit „Aschkenas“ genannt wurde, stammen aus dem 8. Jahrhundert. Die älteste überlieferte Urkunde, die von einer Ansiedlung von Juden – in Köln – spricht, stammt sogar aus dem Jahr 321. Unklar ist allerdings, ob es von da an eine durchgehende Präsenz jüdischer Familien gab.
Im frühen Mittelalter werden italienische und südfranzösische jüdische Kaufmannsfamilien in die Rheinregion angeworben. Ihr Fernhandel nach Italien, Osteuropa und bis in den Orient erfüllt eine wichtige Funktion für die Entwicklung mitteleuropäischer Städte. Um von ihren weitreichenden Kontakten und Verständigungsmöglichkeiten profitieren zu können, unterstützen Könige, Fürsten und Bischöfe die Ansiedlung jüdischer Menschen in ihren Städten. Die weitere jüdische Besiedlung orientiert sich an den großen Handelsstraßen und führt zu größeren Gemeinden in den „SchUM-Städten“ Speyer, Worms und Mainz.

Die via regia begünstigt den Aufstieg des kurmainzischen Erfurt zu einer mittelalterlichen Großstadt. Noch vor 1200 siedelt sich hier eine erste jüdische Gemeinde an: Die Grundmauern der Erfurter Alten Synagoge stammen aus dem 11. Jahrhundert. 

Die Erfurter Alte Synagoge ist erhalten, weil sie über die Jahrhunderte in Vergessenheit geriet.
Wo heute eine Grünanlage nördlich der Krämerbrücke ist, standen früher viele Häuser jüdischer Erfurter und eine Mikwe.

Kurz darauf werden eine Mikwe (ein jüdisches Bad) nahe der Gera und ein Friedhof am Moritztor der damaligen Erfurter Stadtmauer angelegt. Der „Erfurter Judeneid“, der auf das Ende des 12. Jahrhunderts datiert ist, ist die erste nachweisbare Erwähnung einer jüdischen Gemeinde in Erfurt.

Erfurt zu Beginn des 13. Jahrhunderts: Viele der jüdischen Bewohner Erfurts haben sich nördlich des Rathauses und der Krämerbrücke niedergelassen, ihre Angehörigen bestatteten sie in der Nähe des Moritztors.

(Spruner-Menke Handatlas 1880, Karte 39, Nebenkarte 3)


Zu Beginn ihrer Niederlassung in den deutschsprachigen Gebieten stehen jüdische Personen unter dem Schutz des Königs und erhalten – meist persönliche – „Schutzbriefe“. Im Laufe der Zeit entwickelt sich jedoch ein Handel mit diesen Schutzbriefen, die im späten Mittelalter von Bischöfen, Fürsten, Herzögen und Grafen auch kollektiv ausgestellt werden. Nach und nach gelten die Schutzbriefe für immer kleinere Herrschaftsgebiete. Besonders im spätmittelalterlichen Thüringen mit seinen vielen Klein- und Kleinstterritorien werden Reisen dadurch für jüdische Menschen zu einer sehr komplizierten und, durch die vielen Zoll- und Geleitzahlungen, kostspieligen Angelegenheit.

Schritte der Ausgrenzung: Sonderregelungen

Ursprünglich sind Juden in „Aschkenas“ nicht nur im Handel tätig.  Sie sind auch Bauern, Viehzüchter, Handwerker wie z. B. Seidenweber und Glasbläser, Ärzte, Apotheker, Finanzberater, Architekten und religiöse Lehrer – oder sie arbeiten in der Gastwirtschaft oder im Weinbau. Die Mitarbeit der jüdischen Frauen im Handel und Gewerbe ist üblich, einige übernehmen das Geschäft nach dem Tod ihrer Ehemänner.

Auch jüdische Dichter gab es. Im Codex Manesse aus dem 14. Jahrhundert ist der Spruchdichter Süßkind von Trimberg (1230–1300) mit Judenhut und langem Bart dargestellt. Süßkind wirkte zu Beginn des Spätmittelalters.


Im frühen Mittelalter dürfen Juden auch Grund erwerben und Waffen tragen. Als Fremde des Reichs sind sie jedoch auf den Schutz durch die Herrschenden angewiesen. Dieser wird durch königliche Schutzbriefe gewährleistet, die eine Form des Ausnahmerechts darstellen und nicht nur für einzelne jüdische Familien oder Gemeinden, sondern auch für Geistliche, Kaufleute oder Frauen ausgestellt werden können. Schon bald protestiert die Kirche mit antijüdischen Polemiken gegen die wohlwollende Behandlung jüdischer Kaufleute durch die herrschenden Karolinger. Auch Pogrome, Ausweisungen und Verfolgungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des jüdisch-christlichen Zusammenlebens.

Zu dieser Geschichte gehören auch viele die jüdische Bevölkerung betreffende Sonderregelungen, die ab der Zeit der Kreuzzüge mit dem Erstarken der Kirche auf allen Entscheidungsebenen der Politik und Gesellschaft getroffen werden.

Antijüdische Verfolgungen und Massenmorde während der Kreuzzüge zeigen, dass die jüdische Minderheit leicht ausgebeutet werden kann – die Ausstellung von Schutzbriefen für die Juden als nichtchristliche, gesellschaftliche Gruppe wird nötig. Nach und nach entwickeln sich diese meist befristeten Schutzbriefe zu einem Gut, mit dem Herrschende handeln und an dem sie verdienen können. Während die Schutzgelder die Kassen der Schutzherren füllen, geben eine ganze Reihe von Sonderregelungen den jüdischen Menschen die Bedingungen für ihre Niederlassung und die Ausübung ihrer Berufe vor.  Dies betrifft auch Kleidungsvorschriften, die Regeln der Rechtsprechung, die Verordnungen zum zu entrichtenden Leibzoll und zum Zoll auf mitgeführte Waren.

Mit der Kopplung aller gesellschaftlichen Vorgänge an die christliche Religion werden Juden im Laufe des Mittelalters aus der Produktion verdrängt: Der Grunderwerb ist gebunden an einen christlichen Eid und Juden daher nur eingeschränkt gestattet oder verboten, und das Ausüben eines Handwerks ist an die Mitgliedschaft in Zünften – christlichen Bruderschaften – gebunden und Juden entsprechend verwehrt.
Sie wenden sich dem Handel zu – am häufigsten  dem Geldhandel, da großer Bedarf insbesondere bei Herrschern an Kapital besteht, Christen aber kein Geld gegen Zinsen verleihen dürfen.

Der Blick auf den Gläubiger ist ambivalent: Glücklicherweise stellt er finanzielle Mittel zur Verfügung, unglücklicherweise fordert er die Gelder mit Zins irgendwann wieder zurück. Steht der Gläubiger unter besonderem herrschaftlichem Schutz, richtet sich die Herrschaftskritik schnell auch gegen ihn.
Diese Ambivalenz zeigt sich in den wechselnden Phasen der Anwerbung jüdischer Menschen und den darauf folgenden Phasen ihrer Ausweisung. Jüdische Familien leben insofern stets prekär: Sie haben immer nur auf Zeit die Sicherheit, an einem Ort wohnen und tätig sein zu dürfen.

Diese Sonderregelungen prägen das jüdische Leben über Jahrhunderte, engen es ein und lenken die Tätigkeiten und Lebensweisen der jüdischen Bevölkerung in bestimmte Richtungen. Sie erschweren so die gegenseitige Annäherung und Integration der jüdischen Minderheit in die Gesellschaft und verstärken über lange Zeit die Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden als „anders“ und „fremd“ – der erste Schritt zur Ausgrenzung.

2. Pogrome, gefolgt von Anwerbungen

Aufgrund der Verfolgungen von Juden in England und Frankreich und deren Zuzug ins Heilige Römische Reich entstehen ab dem Ende des 13. Jahrhunderts viele neue Gemeinden in Thüringen. 1349 kommt es jedoch auch in den Städten Mitteleuropas und im Thüringischen Raum zu Pestprogromen und Judenverfolgungen. Diese führen zu Vertreibungen und zur Flucht vieler jüdischer Menschen vor allem nach Osteuropa. Wien und Prag entwickeln sich durch den verstärkten Zuzug zu den jüdisch-geistigen Zentren Europas.

Über das Pogrom in Erfurt ist einiges in Erfahrung gebracht worden: Hier führen wirtschaftliche Rivalität, Überschuldung und politische Intrigen, angeheizt durch antijüdische Ressentiments, zur vollständigen Auslöschung der hiesigen jüdischen Gemeinde. Im Verlaufe dieses Pogroms werden von den ca. tausend jüdischen Einwohnern Erfurts bis zu 900 getötet oder in die Selbsttötung getrieben. Die Stadt Erfurt profitiert von diesem Pogrom: Die Schulden, welche die Stadt und die Erfurter bei den Juden haben, werden annulliert. Zudem zieht die Stadt die zurückgelassenen Besitztümer ein.

Der Holzschnitt aus der Schedelschen Weltchronik von 1493 soll darstellen, wie jüdische Menschen bei einem Pogrom lebendig verbrannt werden. Pogrome häufen sich insbesondere in Zeiten der Pest.

Dennoch siedeln sich in den 1360er und 70er Jahren mehr jüdische Menschen in Thüringen an als jemals zuvor. Die Stadt Erfurt wirbt schon wenige Jahre nach dem Pogrom von 1349 erneut um den Zuzug jüdischer Menschen – sie hat recht bald festgestellt, dass mit deren Abwesenheit ökonomische Nachteile verbunden sind. Die Angehörigen der sogenannten zweiten Gemeinde dürfen allerdings nur noch zur Miete in extra errichteten Mietshäusern wohnen, statt Häuser zu erwerben. An der Gera wird eine neue Synagoge erbaut; die alte wurde nach dem Pestpogrom zu einem Lagergebäude umfunktioniert. In den folgenden Jahrzehnten leben einige wichtige jüdische Gelehrte in der Stadt, auch Rabbinersynoden finden mehrfach in Erfurt statt.

Doch warum lassen sich Menschen an einem Ort nieder, der sich schon einmal für sie selbst, für ihre Familien oder Vorfahren als lebensgefährlich erwiesen hat?
Ein möglicher Erklärungsansatz ist, dass sich Jüdinnen und Juden in dieser Zeit nirgendwo sicher vor Verfolgungen und Pogrome fühlen können. Antijüdische Gewalt ist in England, in den französischen und den deutschsprachigen Gebieten verbreitet. Irgendwo jedoch muss man leben. Erfurt als politisches, wirtschaftliches und geistiges Zentrum strahlt weit über die Thüringische Region hinaus und entwickelt sich mit seinen ca. 20 000 EinwohnerInnen zur mittelalterlichen Großstadt, die ab 1395 eine stark frequentierte Universität beherbergt (zum Vergleich: Weimar zählt hundert Jahre später ca. 1 800 Einwohner).
Darüber hinaus lockt Thüringen mit seiner zentralen Lage, mit einem wirtschaftlichen Aufschwung dank des Eisenerzabbaus und der Holzindustrie und mit einem aufblühenden Städtewesen: aus Dörfern werden Kleinstädte, größere Städte gewinnen an Bedeutung.

3. Weimar und die wettinischen Gebiete

Weimar nennt sich erst seit kurzem eine Stadt, als sich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts die ersten jüdischen Menschen hier niederlassen. Um eine jüdische Gemeinde bilden zu können – also eine Gemeinschaft mit mindestens zehn mündigen jüdischen Männern, die gemeinsam den Gottesdienst abhalten –, sind es jedoch zu wenige.

Ob die Weimarer jüdische Bewohnerschaft ebenfalls von den Pestpogromen betroffen ist, ist nicht bekannt. 1361 bemüht sich das wettinische Herrscherhaus, zu dessen Territorium auch Weimar gehört, um die Übersiedlung von Juden in wettinische Gebiete mit der Aufforderung:

„Schicket und schaffet in unser stete unde in unser Land.“

Hierfür schließt es einen Vertrag mit dem Erfurter Juden Freudel, der Kontakte vermitteln soll.
Die wettinischen Landesherren profitieren von Steuereinnahmen und der Möglichkeit der Geldleihe.
Namentlich erwähnt werden im Weimarer Stadtbuch ab den 1370er Jahren die Juden Krosche, Lew, Smohel, Salomo und David. Lew und Smohel sind als Kreditgeber verzeichnet, David von Weimar reist bis nach Istrien an der Adria, Salomo mietet „das Haus des Hans Beime“ und gibt ihm zugleich Kredit.

Auf 1368 ist der erste bekannte kollektive Schutzbrief für die in den wettinischen Gebieten Thüringens lebenden Juden samt ihren Familien datiert. Er ist auf zwei Jahre befristet und legt u.a. eine jährliche Steuer, die an die Landgrafen abzugelten ist, die Befreiung von Zoll und Geleit und eine maximale Zinshöhe fest. Außerdem sichert der Schutzbrief den Juden zu, jüdisches Recht anwenden zu dürfen und die wettinisch regierten Gebiete wieder verlassen zu können – eine Zusicherung, die angesichts regelmäßig vorkommender Übergriffe nicht unterschätzt werden darf. Die Judensteuer vermutlich aller wettinischen Gebiete (also exklusive Erfurt) beträgt 1371 tausend Gulden.

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation um 1400. Die Landgraftschaft Thüringen gehört zu den wettinischen Gebieten und ist in einen westlichen Teil um Eisenach und einen östlichen Teil um Weimar konzentriert. Erfurt gehört zu Mainz. (Karte erstellt von Ziegelbrenner auf Basis von verschiedener Atlanten; CC BY 2.5)

Anfang des 15. Jahrhunderts entstehen in 16 Städten – darunter auch Weimar – des thüringischen Raums jüdische Gemeinden, in weiteren 21 Städten leben wenige jüdische Familien.

Von den in Weimar lebenden Familien ist nicht viel überliefert, doch sind sie im Stadtbuch und auf einer Steuerliste vermerkt: Ab 1406 wird Czenner, der wohlhabendste Jude Weimars, mit zahlreichen Krediten erwähnt. Auf der Steuerliste von 1418 sind sechs jüdische in Weimar lebende Familien vermerkt; die Stadt zählt keine anderthalbtausend Einwohner. Zum Vergleich: In Dresden leben fünf Familien, in Coburg neun. Die meisten Weimarer Juden fungieren offenbar als Kreditgeber und Händler. Das Handwerk wie auch die Landwirtschaft ist ihnen in der christlichen Ständegesellschaft nicht zugänglich.
Das Vermögen der jüdischen Weimarer beträgt zwischen acht und hundert Gulden, Czenner verfügt über 582 Gulden. Ein Haus besitzen darf niemand von ihnen: Das Weimarer „Statut über Erbnahmen, Geschoss und Zoll“ von 1433 legt fest, dass ihnen (neben Geistlichen und Auswärtigen) der Erwerb von Grundbesitz und Häusern verboten ist. Grund ist, dass die Stadt hiervon kein „Geschoß“ – keine Steuer – einnehmen würde; Juden sind laut Schutzbrief grundsätzlich dem Schutzherrn steuerpflichtig:

„Ouch sal keyn borger syn erbe unde gut vorkouffen pristern, erbern luten, nach juden, die mit der stat nicht schossen, uff das unsers gnedigen herren unde der stat geschosz an erbe unde gute nicht gemynnert, geswecht nach gekrencket werde, unde wer des nicht hilde, als obgeschreben stehit, unde ubirkomen wurde mit der worheit, des busse ist 1 lotige marg.“

„Auch soll kein Bürger sein Hab und Gut verkaufen an Priester, Auswärtige noch Juden, die der Stadt kein Schoss [= Steuer] zahlen, so dass unseres gnädigen Herrn und der Stadt Steuer auf Hab und Gut nicht gemindert, geschwächt noch gekränket werden, und wer das nicht einhält, wie es oben geschrieben steht, und mit der Wahrheit überführt wurde, dessen Buße beträgt eine lötige [= vollwertige] Mark.“


4. Antijudaismus in Krisenzeiten

Die vergleichsweise zahlreiche Wiederansiedlung jüdischer Familien in Thüringen im späten 14. Jahrhundert steht allerdings unter einem dunklen Stern: Im Spätmittelalter tritt die Kirche aggressiver auf und schürt antijüdische Vorurteile, die in dieser Zeit des Umbruchs und großer Unsicherheit auf den Nährboden sozialer Mißstimmung fallen.
Hinzu kommt, dass das Zinsverbot für Christen langsam gelockert wird und Christen mit jüdischen Kreditgebern – die zudem Sonderabgaben leisten müssen – in Wettbewerb treten.


Über die Jahrhunderte lässt sich beobachten: Können Juden ihre Abgaben nicht mehr zahlen oder keine größeren Kredite mehr geben, verlieren die Herrschenden ihr wirtschaftliches Interesse an ihnen. So kommt es Ende des 13. Jahrhunderts zu Vertreibungen aus England, kurz darauf zu Ausweisungen aus französischen Gebieten, und nun, im späten Mittelalter, kommt es auf deutschen Territorien wieder verstärkt zu Verfolgungen und Vertreibungen jüdischer Menschen.
1436 weist Friedrich „der Einfältige“, Landgraf von Thüringen, alle Juden aus seinem Herrschaftsgebiet. In seiner entsprechenden Mitteilung an die Städte Erfurt, Mühlhausen und Nordhausen schreibt er, dass er damit „die Cristen verteidingt“ habe. Nicht alle Grafen und Herrscher über kleinere Gebiete kommen dieser für sie unvorteilhaften Anweisung des Thüringer Landgrafen gleich nach.

5. Vom Stadt- zum Landjudentum

1453/54 müssen auch die in Erfurt lebenden jüdischen Familien die Stadt wieder verlassen. Viele fliehen erneut nach Osteuropa. Einige werden aber auch in kleineren thüringischen Grafschaften wie Schmalkalden und Wasungen im Thüringer Wald, Ellrich am Harz oder in Bleicherode aufgenommen. In Weimar leben nun keine jüdischen Familien mehr.

Der Ausweisung aus den Städten folgt die Entwicklung des „Landjudentums“. Dieses wird durch die kleinen Gemeinden gebildet, welche vor allem im Thüringer Wald überdauern. Die hierfür notwendigen Schutzbriefe stammen überwiegend von niederadligen Familien in Südthüringen: Diese nutzen die Schutzbriefe zu ihrem finanziellen Profit und nehmen jüdische Familien in ihren Kleinterritorien wie z.B. Bauerbach, Berkach, Gleicherwiesen, Walldorf und Stadtlengsfeld auf. Von den urbanen Handelszentren abgeschnitten, müssen sich die jüdischen Familien umorientieren. Oft betreiben sie nun kleine Pfandleihen, handeln mit alltäglichen Gebrauchswaren, Vieh und landwirtschaftlichen Produkten, indem sie von Haus zu Haus gehen.

Trotz der generellen Ausweisung von 1436 erhalten in der Folgezeit einige wenige Ausgewählte die Erlaubnis, sich zeitlich befristet in den Residenzstädten Weimar und Eisenach niederzulassen. Diese Schutzbriefe werden abhängig vom jeweiligen Bedarf der Machthaber ausgestellt. Ein solcher Schutzbrief ermöglicht es Moses Staffelsteiner, einer medizinischen Autorität seiner Zeit, sich mit seiner Familie 1529 in Weimar niederzulassen.

Moses, Jude von Staffelstein, Medicus zu Weymar

Johann der Beständige von Sachsen, portraitiert von Lucas Cranach d. Ä. 1526

Die Niederlassung des Moses aus Staffelstein in Weimar in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist eine Ausnahme und zeigt die Zweckmäßigkeit einer solchen Genehmigung: Während die Ansiedlung jüdischer Menschen in vielen Thüringer Städten und Dörfern kaum geduldet ist, ihnen sogar der Durchzug verwehrt bleibt, erhält der zu seiner Zeit berühmte Arzt 1529 einen Schutzbrief vom Kurfürsten Johann dem Beständigen von Sachsen. Zuvor ist er im brandenburgischen Ansbach am Hof tätig gewesen und dort vermutlich dem Weimarer Kurfürsten aufgefallen.

Der auf drei Jahre befristete Schutzbrief wird 1533 von Johann Friedrich dem Großmütigen, dem Sohn des 1532 verstorbenen Kurfürsten, um weitere drei Jahre verlängert. Die Schutzbriefe erlauben Moses von Staffelstein als Kaufmann und Medicus tätig zu sein, sofern er sich des „Wuchers“ enthalte und „von seinem Glauben nichts disputier“. Über die Höhe des Schutzgeldes ist nichts bekannt.

Der zweite Schutzbrief für Moses Staffelsteiner, 1533 ausgestellt.
(LATh – HStA Weimar, EGA Kopialbuch A 10, Bl. 169r)

Schuzbriff Mose Juden
Mose Judenn vonn Staffelstein ist auff drey Jhar
lang, denn negsten nach dat<um>, widerumb schuzts-
briff gegeben, sich zu Weymar zu enthalten, doselbst
sein Kunst der Erzney zu gebrauchenn vnd mit red-
licher aufgerichter kauffmannschaz zu handtirenn,
vnnd sonnst gegenn vnnsers gnedigstenn Hern Vnder-
thonenn, vorwannten vnnd dem Rath vnnd gemainen
Einwohnernn berurtter Stat vnnbeschwerlich zu
halttenn. Doch das er sich wuchers enteusser vnd
von seinem glauben nichts disputier.

Moses und seine Frau haben drei Töchter und zwei Söhne. Kurz nach dem Umzug der Familie nach Weimar veröffentlicht Moses Staffelsteiner in der Schrift „Regiment wider die Pestilentze“ ein Rezept zur Behandlung der Pest. 1536 ordnet Johann Friedrich der Großmütige die Ausweisung aller Juden aus seinem Herrschaftsbereich an. Ob dieser Erlass auch seinen Hofarzt betrifft, ist nicht sicher. Überliefert ist aber ein Vorgang im Folgejahr: Der Stadtrat von Mühlhausen diskutiert, ob er Juden die Niederlassung in der Stadt gewährt. Mühlhausen gehört nicht zum Herrschaftsgebiet Friedrich des Großmütigen. Die Stadtoberen erhalten ein Angebot von Moses Staffelsteiner, zwischen dem Rat und geeigneten jüdischen Personen zu vermitteln und im Sinne der Stadt die Verhandlungen zu führen. In seinem Schreiben stellt er sich als Arzt zu Weimar vor.
Jüdische Gemeinden gibt es zu dieser Zeit in den wenigsten Ortschaften der Thüringer Region, und wo es sie gibt, sind sie klein. Die Familie Staffelsteiner ist in diesen Jahren die einzige jüdische Familie, die in Weimar leben darf, und in ihrem religiösen Alltag entsprechend isoliert. Es ist die Zeit der Frühreformation, die vom Fürstenhaus der Residenzstadt Weimar besonders unterstützt wird. Es verwundert nicht, dass zwei der Staffelsteinerschen Töchter Christen heiraten und den evangelischen Glauben annehmen.
Die Söhne Nathan und Berman sind als Händler tätig und wohl – wie es für Händler zu dieser Zeit üblich ist – viel auf Reisen.
Die dritte Tochter, Merle, heiratet Michel aus Ilmenau, der nur als „der Jude zu Frankenhausen“ bezeichnet wird. Michel erhält in Frankenhausen 1524 einen Schutzbrief für sechs Jahre und versorgt die Gräfin und das Hofgesinde mit Waren. Vermutlich ist auch seine Familie die einzige jüdischen Glaubens vor Ort. Spätestens ab 1540 leben Michel und Merle in Daberstedt – ein „Küchendorf“ des kurmainzischen Erfurt, für das sie einen Schutzbrief haben.

Johann Friedrich der Großmütige, portraitiert von Lucas Cranach d. Ä. 1531

1543 verbietet Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige allen Juden den Durchzug und die Niederlassung in seinen Ländern. Dies bringt auch die Daberstedter Juden in Bedrängnis: Das Dorf kann nur verlassen, wer kurfürstliches Gebiet betritt. Drei Jahre später wird Merle, die im Geldhandel und der Pfandleihe tätig ist, mit ihren vier Kindern auf der Landstraße bei Erfurt aufgegriffen und aufgrund der Geleitsübertretung ins Weimarer Gefängnis gebracht. Würde Michel, Merles Mann, aufgefunden, könnte der Kurfürst 1300 bis 1400 Gulden Lösegeld einfordern, doch sagt Merle aus, ihr leprakranker Mann habe schon vor Wochen Daberstedt verlassen.

Merle bittet um die Taufe für sich und ihre Kinder, die während ihrer Haft in Erfurt und beim Weimarer Pfarrer untergebracht sind. Der Weimarer Superintendent Johannes Brauer setzt sich für die Konvertierungswillige ein. Andere jedoch äußern Zweifel daran, dass Glaubensgründe Merle motivieren. Es ist unbekannt, wie die Sache ausgeht.
1552 werden Michel und Merle geschieden. Michel lebt nun in Berka an der Werra, Merle wohnt – als Jüdin vermerkt – in Rudolstadt. 1554 verliert Merle ihren Vater, kurz darauf sterben auch ihre beiden Brüder.
Moses Staffelsteiner und seine Familie sind für sehr lange Zeit die vermutlich letzten Menschen jüdischen Glaubens, die in Weimar leben dürfen. In der streng lutherischen Stadt werden andersgläubige Bewohner erst seit Ende des 18. Jahrhunderts wieder geduldet.

1536, hundert Jahre nach der Ausweisungsanordnung Friedrichs „des Einfältigen“, weist Johann Friedrich „der Großmütige“ von Sachsen an, dass kein Jude in seinem ernestinischen Herrschaftsgebiet gelitten oder geduldet werde. Im Herzogtum Sachsen-Weimar leben von nun an bis 1815 kaum jüdische Einwohner. Moses Staffelsteiner wird für lange Zeit der vermutlich letzte Jude sein, der in Weimar leben durfte.
Selbst nur das Bereisen thüringischer Gebiete ist für Jüdinnen und Juden an Auflagen gebunden: Er oder sie muss an jeder der vielzähligen Grenzen zwischen den Fürstentümern der thüringischen Gebiete entwürdigenden Leibzoll sowie Zoll auf mitgeführte Waren zahlen. Eine Umgehung dieser Zahlungen durch alternative Wege wird geahndet.

Prinzipiell geduldet werden Juden in Sachsen-Weimar nur dann, wenn sie sich taufen lassen. Eine solche Taufe findet z. B. 1651 in Weimar statt. 1723 übernimmt sogar Herzog Ernst August I. für die Taufe des Juden Hirsch Salomon die Funktion des Taufpaten. Ernst Augusts Eifer für die Sache zeigt sich auch in seinem Plan 1741, ein „Proselytenhaus“ (für Konvertiten vom jüdischen zum lutherischen Glauben) in Dornburg errichten zu lassen.