Angekommen. Oder doch nicht?

1. Antisemitismus

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist erreicht, worum mit viel Geduld und Kraft gekämpft wurde: Juden gelten als gleichberechtigte Staatsbürger. Zugleich müssen sie sich einer neuen Form der Judenfeindschaft erwehren: Zum christlichen Antijudaismus kommt Ende des 19. Jahrhunderts der moderne Antisemitismus hinzu. Dieser richtet sich gegen die Gleichstellung der Juden, und seine Anhänger bemühen sich um eine theoretische Unterfütterung durch die aufkommende Rassentheorie. Hierfür werden Juden als Angehörige einer eigenen „Rasse“ definiert, welche sich im Konkurrenzkampf mit den anderen „Rassen“ wie der „germanischen“, „nordischen“ Rasse befindet. Das Unterscheidungskriterium zwischen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und Juden verschiebt sich damit von einer religiösen auf eine biologistische, vermeintlich wissenschaftliche Ebene.

Das pseudowissenschaftliche Konzept der menschlichen Rasse setzt sich in breiten Kreisen durch, der rassistische Antisemitismus beerbt den Antijudaismus. Schwierigkeiten, die mit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung einhergehen, werden „den Juden“ angelastet. Im Antisemitismus zeigt sich so auch Unzufriedenheit mit und Kritik am modernen Leben. 1880/81 sammeln Antisemiten – darunter Bernhard Förster, der Ehemann Elisabeth Förster-Nietzsches – reichsweit Unterschriften für eine Petition an Reichskanzler Bismarck. In dieser „Antisemitenpetition“ wird Bismarck aufgefordert wird, die Gleichstellung der Juden zurückzunehmen. In Weimar liegt die Petition im Café Grenzdörffer am Karlsplatz (heute: Goetheplatz) aus, vom Gemeinderat Weimars wird sie nicht unterstützt.

… findet in Weimar zunächst wenig Unterstützung

Karl Pabst um 1900

Unter der Herrschaft des Großherzogs Carl Alexander, der von 1853 bis 1901 regierte, und mit Karl Pabst im Oberbürgermeisteramt bis 1910 zeigt sich Weimar liberal und hat den Anspruch, anderen Religionen als der protestantischen mit Respekt zu begegnen. So lässt die Stadtverwaltung 1903 für die Beerdigung eines jüdischen Bürgers das christliche Kreuz aus der Kapelle des städtischen Friedhofs nehmen – ein Vorgang, der sogleich in der Zeitschrift „Deutsche Hochwacht“ skandalisiert wird.

Schreiben von Carl Klar an Landrabbiner Dr. Wiesen (Quelle: LATh–HStA Weimar, Landrabbinat zu Stadtlengsfeld und Eisenach, Bl. 29v)

Diese Ausgaben der „Hochwacht“ sendet Carl Klar, der den hiesigen Ableger des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (kurz: CV) mitgegründet hat, dem Landrabbiner Dr. Wiesen zu. In seinem Brief bittet er ihn zu prüfen, ob rechtliche Schritte ergriffen werden können.

Oberbürgermeister Pabst reagiert auf den Angriff mit einer Gegendarstellung, die die „Deutsche Hochwacht“ abzudrucken gezwungen wird. Darin betont er, dass das Entfernen des Kreuzes bei einer Beerdigung nichtchristlicher Personen der Begräbnisordnung des städtischen Friedhofs entspricht und „in keiner Weise gegen ein Gesetz oder eine Vorschrift“ verstößt. Die Zeitung des CV druckt diese Stellungnahme ebenfalls ab.

Kapelle des städtischen Friedhofs

Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens

Der 1893 gegründete Centralverein versteht sich als politischer Vertreter der jüdischgläubigen Deutschen und setzt sich für die Durchsetzung ihrer erkämpften Rechte ein. 1916 zählen er und die ihm angegliederten Verbände 270 000 Mitglieder, die besonders dem Bildungsbürgertum und der Mittelschicht zugehören.

Der thüringische CV wird bis 1933 mehrfach aktiv: 1930 lässt er gerichtlich Boykottdrohungen gegen von jüdischen Inhabern geführte Geschäfte untersagen. Im Dezember 1932 erstattet der CV beim Eisenacher Polizeiamt Anzeige wegen des Aufrufs „Kauft nicht bei Juden“. Einige Male erschwert der Verein den Thüringer Nationalsozialisten die Umsetzung ihres antisemitischen Programms – es überrascht daher nicht, dass diese sich 1933 beeilen, den Thüringer CV zu verbieten. Die CV-Ableger anderer NS-Gaue können noch bis 1938 legal agieren, wenn auch in ihrer Arbeit eingeschränkt.

Flugblatt des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (Reproduktion des Deutschen Historischen Museums)

Die Juden sollen an allem schuld sein, so tönt es heute aus hinterhältig verbreiteten Flugblättern, so reden es verhetzte Leute auf der Straße nach.
Wir Juden sollen schuld sein, daß der Krieg kam, aber in der Regierung und Diplomatie, in der Rüstungsindustrie und im Generalstab saßen keine Juden.
Wir sollen auch schuld sein, daß der Krieg vorzeitig abgebrochen wurde.
Wir sollen schuld sein an allen Uebeln des
Kapitalismus und zugleich an den Leiden der Revoultion, die diese Uebel beseitigen will.
Wir lehnen es ab, die Sündenböcke abzugeben für alle Schlechtigkeit der Welt. Wir fordern unser Recht, wie bisher friedlich weiter zu arbeiten in unserem deutschen Vaterland, mit dessen Gedeihen in Zeiten der Nacht wie der Niederlage auch unser Wohl unauflöslich verbunden ist.

Die Ortsgruppe München
des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.

2. Zur Situation der jüdischen Gemeinde


Carl Klar gehört zu jenen, die ab den 1860er Jahren – nachdem jüdischen Menschen im Großherzogtum Freizügigkeit zugestanden wird – nach Weimar ziehen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählt die Stadt so viele jüdische Einwohner wie noch nie. Zu den Nachfahren der Elkans, Ulmanns und Callmanns und anderer „alteingesessener“ Familien kommen Jüdinnen und Juden aus dem Thüringer Umland, aber auch von weiter her.

Eduard Lassen

Darunter sind Kaufleute wie die Gebrüder Klar, Albert Ortweiler und die Schwestern Strauß, aber auch am und für den Hof tätige Künstler: die junge Hofschauspielerin Gisela Politzer, der hochverehrte Hofkapellmeister Lassen, der beim Publikum sehr beliebte Hofopernsänger Karl Knopp.

Trotz der Ankunft junger Familien, von denen viele aus den Dörfern der Rhön kommen, erlöscht die jüdische Gemeinde in den 1870er Jahren. Es wird kein Religionsunterricht für die Kinder angeboten, es gibt keinen für alle nutzbaren Gebetsraum. Der kleine jüdische Friedhof steht nicht für alle neu Hinzugezogenen offen, hier werden meist nur Familienmitglieder der „alten“ Familien beigesetzt. 1898 wird Cäcilie Callmann, die Bankierswitwe, als letzte Vertreterin der alteingesessenen jüdischen Familien auf Weimars jüdischem Friedhof bestattet. Zur Beerdigung singt sogar der christliche Männerchor Weimars.
Abgesehen von solchen seltenen Ereignissen ist jüdisches Leben im öffentlichen Raum nicht mehr sichtbar. Der – in den Worten Harry Steins, Kustos der Gedenkstätte Buchenwald – „sanfte, aber stets präsente Assimilierungsdruck der Weimarer Gesellschaft“ bewirkt, dass das Interesse an einer Selbstorganisation als religiöse Minderheit gering ist. Zwei Versuche einer Gemeindegründung schlagen 1881 fehl.
Einige der Zugezogenen allerdings bemühen sich weiterhin, neue religiöse Strukturen zu schaffen. 1898 findet an den Hohen Festtagen der erste gemeinsame Gottesdienst seit Jahrzehnten statt, hierfür müssen sich mindestens zehn Juden über 15 Jahren einfinden. Unklar ist, ob dies so beibehalten werden konnte.

Es scheint, dass erst mit der Gründung des Israelitischen Religionsvereins 1903 Schwung in die Sache kommt.

Der Israelitische Religionsverein

Der Verein gründet sich 1903 im Saal des repräsentativen Stadthauses am Markt.

Seine Gründungsmitglieder sind meist Kaufleute und Geschäftsinhaber. Die Wahl des Ortes zeigt ihr selbstbewusstes Auftreten und verdeutlicht Weimars liberales Klima zu dieser Zeit.

Titelblatt der Vereinsstatuten (Akten der jüdischen Gemeinde Weimar, Sammlung der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen)

Den Zweck des Vereins umreißt Rudolf Sachs in einem Brief an den für Weimar zuständigen Landrabbiner Dr. Wiesen folgendermaßen:

„Unsere Vereinigung hat […] sich zur Aufgabe gemacht, den Religionsunterricht für schulpflichtige Kinder zu fördern u. Gottesdienst an d. hohen Feiertagen zu halten. Auf dieser Basis wurde der Verein gegründet, die Statuten errichtet und der Etat aufgestellt.“

Für die Gottesdienste wird eine Thorarolle angeschafft. Sie finden, wie es für kleine Gemeinden typisch ist, in Gasthäusern und Hotels statt: u.a. im „Brauhof“ am heutigen Goetheplatz, im Hotel „Kaiserin Augusta“ am Bahnhof , später im Hotel „Großherzog von Sachsen“ (Museumsplatz) und im „Chemnitius“ (Goetheplatz / Ecke Geleitstraße).


Auch andere Veranstaltungen wie Vorträge des Landrabbiners organisiert der Verein und ermöglicht der jüdischen Gemeinde Weimars dadurch ein aktives religiöses Leben. Die Vereinsmitglieder feiern gemeinsam Hochzeiten, spenden für gute Zwecke, schließen an Hohen Feiertagen die Geschäfte.


Es kommt allerdings nicht so weit, dass ein neuer Friedhof entsteht oder eine Synagoge errichtet wird. 1914 kommt zwar die Idee auf, auf dem alten jüdischen Friedhof eine Synagoge zu errichten, doch scheitert dieses Vorhaben am Widerstand des Grundbesitzers Dr. Roderich Moritz. Für Beerdigungen werden der jüdische Friedhof in Erfurt oder der städtische Friedhof Weimars genutzt.

Der Religionsunterricht für die Kinder der Vereinsmitglieder, die Weimars öffentliche Schulen besuchen, findet zunächst in Privaträumen statt. Der Lehrer wird von den Eltern mit Unterstützung des Deutsch-Israelitischen Gemeindebunds vergütet. Im Unterricht lernen die Kinder die biblischen Gesetze kennen und das Lesen und Schreiben des Hebräischen. Meist nehmen zwischen fünf und zehn Kinder am Unterricht teil, nach 1913 sind es nur noch drei bis vier. Die jüdische Gemeinde Weimars ist noch immer klein, und der Verein repräsentiert nur den religiös aktiven Teil. 1925 zählt er 25 Mitglieder, während in Weimar gut hundert Bürger jüdischen Glaubens leben.

Wie selbstverständlich ist der jüdische Religionsunterricht?

Um den Unterricht nicht mehr in den auf Dauer ungeeigneten Privaträumen stattfinden zu lassen, bittet Rudolf Sachs den städtischen Schulvorstand um einen Raum für den Religionsunterricht an den Sonntagen. Die Stadt lehnt diese Bitte ab. Der Religionsverein wiederholt sie noch mehrfach vergeblich. Schließlich bietet der Schulvorstand gegen 60 Mark jährliche Miete einen Raum in der Herderschule an.

Die Mitglieder des Religionsvereins sehen sich benachteiligt – schließlich muss keine andere Religionsgemeinschaft für ihren Religionsunterricht Raummiete an die Stadt zahlen. Der Streit zieht sich über Jahre; auch eine Bitte des Landrabbiners Dr. Wiesen weist die Stadt Weimar 1908 ab.

Rechnung der Sophienschule an die Israelitische Gemeinde“ vom 31. Oktober 1933

(Akten der Jüdischen Gemeinde Weimar; Sammlung Jüdische Landesgemeinde Thüringen)

Schließlich erklärt sich das Landrabbinat der Stadt gegenüber bereit, die Kosten zu übernehmen. Der Religionsunterricht findet nun in der Herderschule hinter der Herderkirche statt und wechselt bald in die Sophienschule. Die Jahresmiete samt Hausmeistervergütung überweist der Israelitische Religionsverein der Stadt Weimar bis 1935.

Im Gebäude der ehemaligen Herderschule hat heute die Volkshochschule ihre Räume.

Der Verein belebt die kleine jüdische Gemeinde und bleibt bis in die dreißiger Jahre bestehen. Seine Mitglieder nutzen ihn nicht zu politischen Zwecken, sondern ausschließlich zur Sicherstellung der beiden Vorhaben: Religionsunterricht für die Kinder anzubieten und Hohe Feiertage gemeinsam begehen zu können.

Samuel Lublinski

Der Central-Verein hingegen beteiligt sich stärker an politischen Debatten, er zählt 1903 reichsweit 16 000 und 1916 schon 70 000 Mitglieder, in Weimar gehören ihm jedoch nur wenige an.

Auch die zionistische Bewegung, die die Gründung eines jüdischen Staats in Palästina anstrebt, ist in Weimar – im Gegensatz zu Gotha – kaum vertreten. Einer ihrer ersten Agitatoren, der Literaturkritiker Samuel Lublinski, lässt sich 1907 zwar in Weimar nieder, allerdings nicht aus politischen, sondern aus „literarischen“ Gründen. Zu diesem Zeitpunkt hat er sich schon wieder vom Zionismus distanziert. 1910 stirbt er noch jung und überraschend. Ein gedanklicher Austausch zwischen Weimars Kulturschaffenden oder der jüdischen Gemeinde und Lublinski fand wohl kaum statt.

Das Haus in der Weimarer Haußknechtstraße, in dem Samuel Lublinski eine Zeitlang lebte.


So ist Weimars jüdische Gemeinde zwar angewachsen, gilt aber noch immer als „Zwerggemeinde“, die sich lediglich auf religiöse Belange konzentriert und sich auf die Erfurter Einrichtungen und das Landrabbinat in Stadtlengsfeld stützt.

3. Vorbereitung des politischen Klimawechsels

Während sich eine neue kleine Gemeinde in Weimar etabliert, gerät die Stadt in den Fokus völkischer und antisemitischer Kräfte. Die Stadt Goethes und Schillers steht zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie keine andere für die deutsche Kultur, welche auch nach der politischen Einigung der deutschen Kleinstaaten als ein wichtiger Identifikationswert fungiert – vielbeschworen im Konzept der „Deutschen Kulturnation“.
Das Aufkommen des deutschen Nationalismus und Patriotismus im 19. Jahrhundert begleitet von Beginn an die Beschwörung von Feindbildern. Als Bedrohung werden vor allem die Franzosen wahrgenommen, später im Kaiserreich auch Sozialdemokraten, Internationalisten und Juden – letztere werden mit den Krisen des Kapitalismus und Herausforderungen des Liberalismus in Verbindung gebracht; ein altes Muster zeigt sich wieder.

Eine Organisation, die dieser reaktionären Mißstimmung einen radikalen Ausdruck verleiht, ist der 1891 gegründete Alldeutsche Verband. Diese reichsweite Vereinigung tritt für eine expansionistische Außen- und Kolonialpolitik ein. Im Verband sammeln sich Militaristen, Imperialisten, Nationalisten und Antisemiten, die ihre Ressentiments gegen Juden und die Sozialdemokratie verschwörungideologisch zu legitimieren versuchen. Die Mitglieder sind mit wenigen Ausnahmen Männer; sie stammen meist aus privilegierten Schichten. Auch der an der Universität Jena tätige Ernst Haeckel und Max Weber, Begründer der deutschsprachigen Soziologie, sind darunter.
Der Alldeutsche Verband gilt als Wegbereiter des NS-Regimes, und eine inhaltliche Nähe spricht unverkennbar aus folgendem in den „Alldeutschen Blättern“ 1894 erschienen Artikel:

„Nach Osten und Südosten hin müssen wir Ellenbogenraum gewinnen, um der germanischen Rasse diejenigen Lebensbedingungen zu sichern, deren sie zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte bedarf, selbst wenn darüber solch minderwertige Völklein wie Tschechen, Slowenen und Slowaken […] ihr für die Zivilisation nutzloses Dasein einbüßen sollten […] Deutsche Kolonisation, deutscher Gewerbefleiß und deutsche Bildung […] sollen bis nach Kleinasien als ein Bindemittel dienen, durch das sich große und zukunftsreiche Wirtschaftsgebiete uns angliedern […]

In Weimar gründet sich 1902 eine Ortsgruppe des Alldeutschen Verbandes. Sie ist 45 Mitglieder stark und vernetzt alle Schichten: Klempner wie Kulturschaffende, Angehörige der Justiz und Ministeriumsmitarbeiter finden sich im Metropol-Theater am Brühl ein.
Der Verband gehört zu den Kräften, die Weimar nach einer liberalen Phase nach rechts rücken lassen. Neben ihm treiben das Herrscherhaus und völkische Netzwerker den politischen Klimawechsel an.

Adolf Bartels

Zu letzteren gehört Adolf Bartels, ein Literaturkritiker, der sich kurz vor der Jahrhundertwende in Weimar niederlässt und sich in seinen Schriften gegen „dekadente“ und „jüdische“ Literatur wendet. 1905 erhält er vom Großherzog den Professorentitel, 1906 gründet er in der Erholung – heute das Mon Ami – den Deutschen Schillerbund. Dessen Ziel ist es, „ein Bayreuth für das Schauspiel [zu] schaffen, das besonders der deutschen Jugend gewidmet sein soll“. Mit den „Nationalfestspielen für die deutsche Jugend“, die ab 1909 alle zwei Jahre stattfinden, soll ein „nationales Erziehungs- und Einigungswerk“ ins Leben gerufen werden, das auf Gymnasiasten (und ihre Lehrerschaft) abzielt und Klassenfahrten mit kultureller Bildung unter nationalistischen Vorzeichen kombiniert.
Die Festspiele werden ein großer Erfolg und erhalten finanzielle Unterstützung vom Großherzog Wilhelm Ernst und Industriellen. Um sich um „wichtige andere Dinge“ kümmern zu können, zieht Bartels sich ab 1910 aus dem Schillerbund zurück. Die „wichtigen anderen Dinge“ bestehen in der Organisation und Vernetzung radikaler völkischer Intellektueller und in der antisemitischen Prägung des Nachwuchses. Zum seinem „Bartels-Bund“ gehören u.a. Bartels späterer Sekretär Hans Severus Ziegler und Baldur von Schirach.

Baldur von Schirach, um 1933

Ziegler entwickelt sich zu einem nationalsozialistischen Kulturfunktionär und wird 1936 Generalintendant des DNT; Baldur von Schirach entbrennt nach einer Begegnung 1925 mit Adolf Hitler für dessen Bewegung, wird 1931 zum Reichsjugendführer der NSDAP ernannt und unterstreicht 1942 seine Verantwortung als Gauleiter Wiens für die Deportation der Wiener Juden mit den Worten, er sehe darin „einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur“. 1925 sind es Bartels, Ziegler und von Schirach, die Hitler Zugang zu den konservativ-großbürgerlichen Weimarer Kreisen verschaffen.

Die antisemitische Stimmung wird in Weimar also aktiv geschürt und gefördert.
Sie verstärkt sich auch im ganzen Reich und findet in Thüringen ihren ersten Höhepunkt schließlich 1923/24, dem „Krisenjahr“ der Weimarer Republik. Anfang 1924 stellt der Centralverein fest, dass die antisemitische Hetze einen „bisher unbekannten Grad von Ruchlosigkeit“ erreicht habe. In den ersten Jahren der Republik wird zahlreichen prominenten, politisch linksstehenden Jüdinnen und Juden, darunter Rosa Luxemburg, Kurt Eisner und Gustav Landauer, unterstellt, eine „sozialistische Internationale unter jüdischer Herrschaft“ errichten zu wollen. Sie werden von rechtsgerichteten Soldaten bzw. Freikorpsangehörigen ermordet. Die Ausschreitungen und Attentate begleitet eine reichsweite antisemitische Propagandawelle: 1924 zählt mehr als 700 antisemitische Publikationen.
Mitverantwortlich hierfür zeichnet ein Kassenschlager aus der Feder eines Weimarer Schriftstellers: Artur Dinters „Die Sünde wider das Blut“, 1917 erschienen und bis 1934 in über 260 000 Exemplaren verkauft, handelt von der „Zersetzung der arischen Rasse“ durch einen jüdischen Mann, der systematisch blonde Jungfrauen schwängert. Der pornographisch geprägte Roman gibt das Motiv vor, das ab 1923 vom antisemitischen Hetzblatt „Der Stürmer“ in skandalisierender Endlosschleife abgehandelt wird: die sogenannte Rassenschande.

4. Antisemitische Regierungsarbeit

Artur Dinter

Artur Dinter ist nicht nur schriftstellerisch aktiv, er gründet 1919 mit dem „Deutschen Schutz- und Trutzbund“ auch den größten antisemitischen Verband Deutschlands, ist Mitglied des Alldeutschen Verbands und sucht die Nähe zu Adolf Hitler. 1924 wird er von diesem zum Thüringer Gauleiter der NSDAP ernannt und als Fraktionsführer des Völkisch-Sozialen Blocks und in den Thüringischen Landtag gewählt. Hier kann er als Zünglein an der Waage agieren: Da der Ordnungsbund, ein Zusammenschluss bürgerlich-konservativer Parteien, weder bereit ist, mit den Sozialdemokraten und der Linken zusammenzuarbeiten, noch Neuwahlen ansetzen will, fällt dem VSB die Rolle der tolerierenden Partei zu. In Weimar fährt die Partei, die anstelle der nach dem Hitler-Putsch verbotenen NSDAP kandidiert und völkisch wie nationalsozialistisch orientierte Mitglieder sammelt, mit 18,6 Prozent das beste Ergebnis von ganz Thüringen ein.

Den Erfolg nutzt Dinter, um die Bedingungen des Tolerierungsbündnisses zu diktieren: Juden seien aus allen Regierungs- und Beamtenstellen zu entfernen. Tatsächlich werden u.a. jüdische Verwaltungsbeamte der Ministerien entlassen. Im Brennpunkt der Auseinandersetzung steht jedoch Walter Loeb, der jüdische Präsident der neugegründeten Thüringischen Staatsbank. Loeb, der schon mit 15 Jahren kaufmännischer Angestellter bei einer Handelsbank in New York ist, 1919 der SPD beitritt und als Vertrauensmann der Reichsregierung mit amerikanischen Dienststellen verhandelt, kommt 1922 nach Weimar, um den hochrangigen Posten an der Spitze der Staatsbank zu übernehmen.
Im Laufe des Frühjahrs 1924, während die Koalitionsgespräche stattfinden, gerät Walter Loeb ins Kreuzfeuer einer gegen ihn gerichteten Kampagne, die insbesondere von der regionalen Presse unterstützt wird. In den Artikeln ist von einer jüdischen Verschwörung zugunsten ausländischen Kapitals in der Staatsbank die Rede. Walter Loeb versucht sich mit einem Offenen Brief zu verteidigen und appelliert an die nicht judenfeindliche Öffentlichkeit mit den Worten Ludwig Börnes:

„Tausendmal habe ich es erfahren und doch bleibt es mir ewig neu. Die einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei. Die anderen verzeihen es mir. Der dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise. Es kann keiner hinaus.“

Die sozialdemokratische und kommunistische Opposition im Landtag weist auf die Verfassungsfeindlichkeit des Vorgehens hin:

„Tatsache ist, daß die Völkischen die Entlassung eines Beamten fordern, von dem sie anerkennen müssen, daß er von seinem Geschäft etwas verstehet, dem sie weder die Fähigkeiten und Vorbildung absprechen können. Daß sie seine Entfernung verlangen, nur allein deswegen, weil er Jude ist, ist […] bezeichnend für diese verfassungsfeindliche Stellungnahme, die durch den ganzen Ordnungsblock gestützt wird.“


Im Juni 1924 erhöht Dinter den Druck: „Mich interessiert nur seine Eigenschaft als Jude. Wir dulden keinen Beamten in der Regierung, der Jude ist. Wenn die Regierung den Juden Loeb nicht entfernt, dann werden wir die Vertrauensfrage stellen. Finden wir keine Mehrheit, wird die völkische Fraktion dem Parlament ihre Mitarbeit versagen.“

Im September 1924 schließlich, nachdem Loeb angesichts der stetigen öffentlichen Angriffe und einer Hausdurchsuchung von dem ihm vorgesetzten Finanzminister Wilko von Klüchtzner, den Mitgliedern der Ordnungsbund-Regierung wie auch von seinen Mitarbeitern keinerlei Rückendeckung erhalten hat, tritt er von seinem Posten zurück. Die „Staatsbankaffäre“ um Walter Loeb gibt den Nazis um Hitler das Lehrstück ab, wie radikale Forderungen durchgesetzt werden können. Eine Erkenntnis ist: Antisemitismus wird nicht nur durch das Wirken völkischer Intellektueller wie Dinter und Bartels gesellschaftsfähig, sondern auch durch den Mangel an Gegenwehr von Seiten der Konservativen und der Bevölkerung.

Das Gebäude der Notenbank – hier hatte Walter Loeb seinen Arbeitsort.

Die im Weimarer Bürgertum verbreitete Ablehnung der demokratischen Republik verbindet sich mit einer zunehmenden Begeisterung für die Nazis. Bei den Thüringer Landtagswahlen 1929 erhält die NSDAP 26,4 Prozent der Stimmen und stellt mit Wilhelm Frick den ersten nationalsozialistischen Minister Deutschlands.

Ernst Latzko


Doch schon Mitte der zwanziger Jahre wird Weimar zu eng für Vertreter der Moderne – das Bauhaus wird 1924/25 aus der Stadt verdrängt –, aber auch für jüdische Künstler wie den vielgerühmten Ernst Latzko, die an neuen Entwicklungen in der Musik und Kunst interessiert sind. Ernst Latzko verlässt Weimar 1927.

Dem Cellisten Eduard Rosé und der Sängerin Jenny Fleischer-Alt werden im Zuge der Umstrukturierung der Musikschule in eine Musikhochschule die Leitung von Hochschulklassen verwehrt. Beide bekennen sich seit Jahrzehnten zum evangelischen Glauben, kommen aber aus jüdischen Familien. Die beiden berühmten und für das Weimarer Kulturleben verdienstvollen Künstler verlassen 1924 bzw. 1927 die Musikhochschule.


1930 beeilen sich die nunmehr mitregierenden Nationalsozialisten, ein „judenfreies Theater“ zu fordern. In der Stadt finden seit 1924 Aufmärsche völkisch-nationalistischer Kreise statt, auch die NSDAP kann hier – im Deutschen Nationaltheater – 1926 ihren ersten Reichsparteitag nach ihrer Wiederzulassung abhalten. Die Zustände, die an diesem Juliwochenende in der Stadt herrschen, schildert Emil Fischer, Opernsänger am DNT und Mitglied des Centralvereins wie auch des Israelitischen Religionsvereins, in seiner Anzeige an die Staatsanwaltschaft. Sie geben einen Vorgeschmack darauf, was ab 1933 zur herrschenden Ideologie wird:

„Ich bin am Sonnabend den 3ten während der Mittagsstunde und auch noch nach mittags in drei Fällen durch antisemitische Zurufe von mir begegnenden Nationalsozialisten in feldmarschmäßiger Ausrüstung beleidigt worden. Eine Entgegnung meinerseits wäre in Hinblick auf die zahlenmäßige Überlegenheit der in Haufen bewaffnet umherziehenden Nationalsozialisten – ein Wahnsinn gewesen. Am Sonntag den 4ten erlebte ich am Karlsplatz den Vorbeimarsch des Zuges:
Man sang:
1) Wir scheißen auf die Freiheit in der Judenrepublik u.s.w.
2) Haut sie raus die Judenbande aus unserem deutschen Vaterlande u.s.w.
3) Wir brauchen keine Judenrepublik, Pfui, Judenrepublik, Pfui, u.s.w.
4) Zum Putsch, zum Putsch sind wir geboren,den Adolf Hitler haben wirs geschworen u.s.w.
(…)
Ich halte das Auftreten dieser sogenannten Nationalen Sozialisten für schmachvoll und empfinde ihr Benehmen am vergangenen Sonntag als eine unerhörte Provokation. Ich habe schon mancherlei an Beleidigungen einstecken müssen, was ich meiner Zugehörigkeit zu einer nicht vorschriftsmäßigen Religion und Weltanschauung verdanke, aber dieser Aufzug am Sonntage bedeutete für mich mehr als eine persönliche Beleidigung. Es war eine zweifellos beabsichtigte Schmähung der vaterländischen Empfindungen jener Staatsbürger, die durch körperliche und geistige Arbeit ehrlich an der Beruhigung und Gesundung unserer Verhältnisse mitarbeiten.
Hochachtungsvoll
Emil Fischer“