Der kleine Schritt zum anonymen Tod

Bertha, Selma und Martha Kahn

Wielandstraße 2

Bertha Kahn starb früh, sie war erst 56 Jahre alt. Doch sie starb zu Hause in Weimar; ihre Schwestern waren bei ihr, sie wurde beerdigt und erhielt eine Grabstätte auf dem Jüdischen Friedhof in Erfurt.
Im Frühjahr 1941 war das alles noch möglich. 14 Monate später, am 10. Mai 1942, müssen Berthas Schwestern Selma und Martha ihr Zuhause verlassen. Sie werden mit Hunderten weiteren Thüringer Juden in die Ghettos und Lager der NS-Tötungsmaschinerie gebracht, die in den polnischen Gebieten des „großdeutschen Reichs“ auf Hochtouren läuft. Nach ihrer Ankunft im Ghetto Belzyce verlieren sich Marthas Spuren im Distrikt Lublin, Selmas letzter Weg führt sie am 8. September 1942 nach Auschwitz. Ihrer beiden Todesdaten sind nicht bekannt.

In den 14 Monaten zwischen dem Frühjahr 1941 und dem Frühsommer 1942 sind die Machthaber in Eile, die „Judenfrage“ einer „Endlösung“ zuzuführen, und ab 1942 bleiben den meisten Opfern ihres Massenmordes die Rituale des Abschiednehmens und des Trauerns verwehrt. Der NS-Staat maßt sich nun nicht mehr nur an, über alle Aspekte des Lebens, sondern auch des Todes jüdischer Menschen zu entscheiden.

Wenig ist über ihren Tod bekannt, und wenig wissen wir über das Leben der drei Schwestern: In den 1880er Jahren kamen sie in Wiesbaden als Kinder von Tobias und Frieda Kahn, einer geborenen Strauss, auf die Welt und wuchsen mit ihren Geschwistern Lina und Julius auf. Verbrachten sie ihre Kindheit in Wiesbaden oder doch schon in Weimar? Eines Tages verschlägt es sie jedenfalls nach Weimar, wo sie schließlich einen Laden übernehmen, in dem die Weimarer schon seit Jahrzehnten ihre Schuhe kaufen – zur Jahrhundertwende liegt er noch am Markt, später in der Wielandstraße, direkt am Theater.

Vor dem Umzug des Schuhladens in die Wielandstraße 2 befand er sich in der Marktstraße/Ecke Kaufstraße. Die Fotografie wurde um 1910 aufgenommen.

Gegründet wurde das Geschäft von Rosa und Jeanette Strauss, den Schwestern von Frieda und Tanten von Bertha, Selma und Martha Kahn. Rosa heiratete Moritz Marchand, von dem überliefert ist, dass er 1903 den Israelitischen Religionsverein Weimars mitgründete. Die Marchands führten das Geschäft viele Jahre lang und gaben es schließlich in die Hände der Schwestern Kahn.

Adressbuch 1924: Anzeige für die Schuhhandlung der Geschwister Strauß

Im Juli 1938 starb Moritz 75-jährig, seine Frau Rosa beging kurz darauf ihren achtzigsten Geburtstag. Nachdem die beiden über vierzig Jahre lang ihre Kraft und ihr Herzblut in das Geschäft steckten, haben sie 1938 noch mitansehen müssen, wie die Schwestern Kahn zur Aufgabe des Schuhladens gezwungen wurden.

1938 wird in einem “Sonderbefehl” vom Lagerkommandanten Koch des KZ Buchenwald u.a. auf das Geschäft der Geschwister Kahn aufmerksam gemacht – dieses sei von den im KZ Buchenwald beschäftigten SS-Angehörigen zu boykottieren. Die Liste erfasst nicht nur “jüdisch” geführte Geschäfte, sondern gibt auch Auskunft über einige Privatadressen von Geschäftsinhabern. (LATh – HStA Weimar, NS 4 Bu 33 Teil 1, Bl. 92r)

Nach dem Tod ihres Mannes zog Rosa Marchand zu den Schwestern Kahn in die Kaiserin-Augusta-Straße 57. Hier kam auch Hedwig Lasch Anfang der vierziger Jahre unter. Die Dachgeschosswohnung der Kahns, ein „enges Quartier“1, war zudem die erste Zuflucht der vielköpfigen Familie Wolff, die 1940 aus dem norddeutschen Aurich nach Weimar flüchtete. Die Wolffs fanden schließlich eine dürftige Bleibe im „Judenhaus“ am Brühl 6. Auch Martha und Selma Kahn müssen um die Jahreswende 1941/42 herum gemeinsam mit ihrer Tante Rosa Marchand umziehen. Die Gestapo weist ihnen ein Zimmer in der Wohnung Else von den Veldens in der Carl-Alexander-Allee 10 zu, die Küche dürfen sie mitbenutzen.

Lange bleiben sie nicht. 1942 verbreiten sich Gerüchte darüber, was die Deportierten in den Ghettos und Lagern im Osten erwartet.2 Die Angst vor der Deportation geht um und bringt manche dazu, sich mit verzweifelten Mitteln dem ihnen angedachten Los zu entziehen: Wie Jenny Fleischer-Alt und ihre Nichte Edith Gál flüchtet auch Esther von den Velden im Frühjahr 1942 in den Freitod. Martha und Selma Kahn werden, zusammen mit Hedwig Lasch und einigen Mitgliedern der Familie Wolff, im Mai 1942 nach Belzyce deportiert. Zurück bleibt Rosa Marchand. Im September 1942 wird die 84-Jährige nach Theresienstadt deportiert. Sie stirbt dort am 20. April 1943.

1 Zitat aus einem Bericht von Laura Hillman, geborene Hannelore Wolff; in: Stein: Familien, S. 163

2 Vgl. http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-nationalsozialismus/39566/stille-helden?p=1#footnodeid_13-13 und http://www.deutschlandradiokultur.de/die-maer-vom-nicht-wissen-widerlegt.950.de.html?dram:article_id=134304

Text: svdf

Quellen:
Erika Müller, Harry Stein: Jüdische Familien in Weimar, Stadtmuseum Weimar 1998
Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Der Oberfinanzpräsident Thüringen Nr. 720

http://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/opfer/23851-rosa-marschend/ (25.04.2016)
https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de1001216 (25.04.2016)
https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de1003814 (25.04.2016)
http://www.deutschlandradiokultur.de/die-maer-vom-nicht-wissen-widerlegt.950.de.html?dram:article_id=134304 (28.05.2016)
http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-nationalsozialismus/39566/stille-helden?p=1 (28.05.2016)

Weitere Literatur:

Ulrich Völkel (Hg.): Stolpersteingeschichten Weimar, Weimar 2016, Eckhaus-Verlag

Bildnachweis:

Die Schwarzweissfotografie gehört zur Sammlung Magdlung, diese kann hier eingesehen werden.