Vom Verblassen der jüdischen Spuren in Weimar

Familie Sachs

Brucknerstraße 11
Luthergasse 1

Die jüdische Gemeinde Weimars

Über Jahrhunderte hinweg lebten nur wenige Juden in Weimar. Wie an vielen anderen Orten auch, galten in Weimar strenge Reglements, die ihre Ansiedlung verhinderten.
Mit der Ernennung des 28-jährigen Jacob Elkan zum „Hofjuden“ 1770 leitete die verwitwete, regierende Anna Amalia eine in religiöser Hinsicht tolerantere Zeit ein, denn bisher duldete man in der streng lutherisch orientierten Stadt keine andersgläubigen Bewohner (erst 1775 durfte sich eine kleine katholische Gemeinde gründen1). Jacob Elkan kam mit seiner Frau Simcha nach Weimar – vermutlich stammt er aus dem fränkischen Raum – und belieferte den Hof, aber auch Weimars Bürger, fortan vor allem mit feinen Stoffen. Auch um die Beschaffung von Silber für die Münzen des Landes kümmerte er sich.

Die Familie hinterließ Spuren im Stadtbild, denen bis in die heutige Zeit nachgegangen werden kann: Jacob, Simcha und ihre neun Kinder – von denen vier allerdings schon früh verstarben – lebten ab 1777 in einem Haus in der Windischengasse (heute Windischenstraße 25), in dem sich auch ein Verkaufsraum für Elkans Stoffe befand. Am Eingangsportal befinden sich noch die Initialien Elkans.
Es gibt Vermutungen, dass Elkan im Keller seines Hauses eine vom Grundwasser gespeiste Mikwe2 einrichtete; sicher ist, dass sein Zuhause eine private Synagoge beherbergte, die auch von anderen jüdischen Familien genutzt wurde.3 Von diesem Betsaal ist noch eine Säule erhalten, die im Innenhof des Hauses steht.
Darüber hinaus erwarb Jacob Elkan ein Gelände an der heutigen Leibnizallee, das den Weimarer jüdischen Bewohnern als Friedhof diente.

Der jüdische Friedhof Weimars in der Leibnizallee. (Einige Rechte liegen beim Urheber: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.de)

Zwanzig Jahre nach der Ankunft Jacob Elkans waren drei jüdische Familien in Weimar ansässig: die Lösers, die Ulmanns und die Elkans. Die Zahl der jüdischen Einwohner sollte bis 1880 ungefähr konstant bei zwei bis drei Dutzend bleiben und dann sprunghaft auf 80 ansteigen – und dennoch machte die jüdische Bewohnerschaft bei einer Gesamteinwohnerzahl von 19.868 lediglich 0,4 Prozent aus.

Diese wenigen Weimarer Juden bildeten bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine kleine Gemeinde4, die allerdings keine offizielle Anerkennung fand, in sich zerstritten war und eher aus praktischen Gründen weiterexistierte: Ihre Mitglieder waren verantwortlich für die Entlohnung des für Weimar zuständigen, in Stadtlengsfeld lebenden Landrabbiners. Nachdem der Staat Weimar dessen Bezahlung über ihre Steuern regelte, zogen sich die jüdischen Bewohner Weimars noch stärker als bisher ins Private zurück. Der Elkansche Friedhof wurde bis Ende des 19. Jahrhunderts genutzt, danach verwilderte er.

Den letzten Versuch, eine jüdische Gemeinde aufzubauen – und damit die Religiösität und das Verbundenheitsgefühl unter den jüdischen Bewohnern Weimars zu fördern –, unternahm Rudolf Sachs Anfang des 20. Jahrhunderts. Er selbst war kein gebürtiger Weimarer, sondern kam aus dem nahe Meiningen gelegenen Bibra 1899 in die Stadt.

Mit Schwung und Tatkraft: Familie Sachs kommt nach Weimar

Rudolf Sachs und seine Frau mit dem klingenden Namen Flora Sephora, geborene Wildberg, sind beide 1855 in Bibra geboren, finden hier zueinander und gründen eine Familie. Alle sieben Kinder kommen in Bibra zur Welt: Max, der älteste, Ignatz folgt 1883, die drei Mädchen Olga, Hilde und Käthchen 1884, 1886 und 1888, die jüngsten sind Kurt und Karl.
Das vergleichsweise kleine Bibra zählt 1885 nur 663 Einwohner, von denen jedoch 134 jüdischen Glaubens sind – sie machen zwanzig Prozent der Einwohner aus. Dementsprechend weist das Dorf eine aktive jüdische Gemeinde auf, die über eine Synagoge, einen Schulraum nebst Lehrerwohnung, ein Backhaus und eine Mikwe verfügt. Dennoch leben die meisten Bibraer Juden in eher ärmlichen Verhältnissen und verdienen ihren Lebensunterhalt als Händler (von Textilien, Vieh und Kleinwaren), Fleischer, Schneider und Landwirt.5
Rudolf Sachs und Sephora Wildberg gehen hier in die „israelitische Volksschule“ und lernen bei dem eigens angestellten Lehrer Georg Holländer aus dem benachbarten Bauerbach. Ihre älteren Kinder besuchen noch in Bibra die Dorfschule, mit der die israelitische Volksschule seit 1876 vereint ist, und erhalten gesondert Religionsunterricht.

Der Wegzug der Familie Sachs reiht sich ein in eine ökonomisch begründete Landflucht, die Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur Bibras jüdische Bewohnerschaft um fast ein Viertel sinken läßt und die bis in die dreißiger Jahre anhält. 1898, als die Familie Sachs den Umzug nach Weimar beschließt, leben noch 105 Personen jüdischen Glaubens in Bibra. 1932/33 sind es nur noch 57. Der letzte in Bibra ansässige Jude, Oskar Meyer, wird im März 1943 nach Theresienstadt deportiert; damit erlischt die Israelitische Kultusgemeinde des Ortes.

Nach Weimar zieht es die Familie, weil Rudolf Sachs gemeinsam mit Israel Berlowitz ein Textilgeschäft in der Schillerstraße 17 aufbauen will. Ihr Unterfangen glückt den beiden, und das Kaufhaus Sachs & Berlowitz, wie die Firma bis zu ihrer „Arisierung“ 1938 heißt, wird zu einer bekannten Weimarer Adresse für Textilwaren. In einer Anzeige im Weimarer Adressbuch von 1900 preisen sie eine „grosse Auswahl in Damen-Konfektion, Kleiderstoffen, […] Gardinen, Teppichen, […] Wäsche“ u. a. an und versprechen, „beste bewährte Qualitäten zu aussergewöhnlichen billigen aber streng festen Preisen“ anzubieten6 – offenbar mit Erfolg, denn das Gebäude des florierenden Unternehmens stellt sich schon bald als zu klein heraus. Um 1910 geben die beiden Inhaber dem Weimarer Architekten Bruno Röhr den Auftrag, ein modernes Gebäude für die Schillerstraße 17–19 zu entwerfen. Noch 1920 weisen sie stolz in einer Anzeige auf das „größte und modernste Geschäftshaus am Platze“ hin.

Adressbuch 1921/22: Anzeige von Sachs & Berlowitz

Der Israelitische Religionsverein

Zwar verspricht Weimar wirtschaftlich bessere Möglichkeiten, doch auf religiösem Gebiet kann es für Familie Sachs nicht mit Bibra mithalten. Der jüdische Friedhof liegt brach, es wird kein Religionsunterricht für die Kinder angeboten, nicht wenige Weimarer Juden sind zum protestantischen Glauben übergetreten.
Doch die Thüringer Städte wachsen, und mit ihnen die Zahl ihrer jüdischen Einwohner.7 Neu in die Stadt gezogene Familien bemühen sich um die Wiederbelebung religiöser Bräuche: 1898 findet ein gemeinsamer Gottesdienst zu Jom Kippur8 statt; die Hohen Feiertage sollen von nun an wieder gemeinsam begangen werden. Ob das Vorhaben in den Folgejahren umgesetzt wird, ist nicht überliefert.
Allzu aktiv scheinen die Weimarer jedoch nicht gewesen zu sein, denn 1903 erhält der für Weimar zuständige Stadtlengsfelder Landrabbiner Dr. Josef Wiesen ein Schreiben des Deutsch-Israelischen Gemeindebunds9: Er möge seinen Einfluss als Oberhaupt der jüdischen Gemeinschaft im Großherzogtum Weimar geltend machen, um dem Religionsunterricht in Weimar zu einem stärkeren Zuspruch zu verhelfen. Bisher erhalten lediglich drei Kinder der Familie Sachs regelmäßigen Religionsunterricht durch den Erfurter Rabbiner Dr. Moritz Salzberger, der vom Gemeindebund mit jährlich 75 Mark unterstützt wird.
Die folgenden Bemühungen von Dr. Wiesen und einigen Weimarer Familien tragen Früchte: Im Sommer 1903 gründet sich in Weimar der Israelitische Religionsverein. Unter den Mitgliedern sind u.a. Rudolf Sachs, Israel Berlowitz, Moritz Marchand, Albert Ortweiler, Carl Klar und Sally Kaufmann. Die Zwecke des Vereins beschreibt Rudolf Sachs 1904:
„Unsere Vereinigung hat […] sich zur Aufgabe gemacht, den Religionsunterricht für schulpflichtige Kinder zu fördern u. Gottesdienst an d. hohen Feiertagen zu halten. Auf dieser Basis wurde der Verein gegründet, die Statuten errichtet und der Etat aufgestellt.“10
Eine offiziell anerkannte jüdische Gemeinde ist damit noch nicht gegründet – und wird wohl auch nicht angestrebt, vermutlich weil die Weimarer Regierung ihr diese nötige Anerkennung ohnehin verweigern würde.11
Rudolf Sachs steht dem Verein als erster Vorsitzender vor, Siegfried Lohde – der in der Schillerstraße 16, direkt neben Sachs’ Kaufhaus, ein Geschäft für Herrenmode führt – wird Schriftführer.

1904 steigt die Zahl der regelmäßig am Religionsunterricht teilnehmenden Kinder auf fünf: Susanne und Hilde Ortweiler, ein Kind der Familie Lohde, zwei Kinder der Familie Sachs. Die Vereinsmitglieder treffen sich zu Vorträgen u. a. des Rabbiners Wiesen in verschiedenen Cafés der Stadt, für die Feiertage wurden Säle von Gaststätten oder Hotels angemietet. Dort lagert auch der Schrein mit der Thorarolle.
Die jüdische Gemeinde Weimars bleibt stets klein, mehr als zehn Kinder nehmen am Religionsunterricht nicht teil, meist sind es weniger. Neben den religiösen Gesetzen lernen sie auch, Hebräisch zu lesen. Aktive Mitglieder der Gemeinde sind meist Geschäftsinhaber: Israel Berlowitz, Rudolf Sachs und seine Söhne Kurt und Karl, der Fischhändler Emanuel Eisenbruch, der Schuhverkäufer Moritz Marchand, der Lederhändler Albert Ortweiler u. a.12
Der Verein repräsentiert freilich nicht alle jüdischen Weimarer. So treten einige der in Weimar lebenden Künstler mit jüdischem Hintergrund dem Verein nicht bei, wohl weil die Religion keine allzu große Rolle in ihrem Leben spielt. Andere – wie Hedwig Hetemann, Gustav Lewin, Jenny Fleischer-Alt und Eduard Rosé – sind soweit „assimiliert“13, dass sie die christliche Religion angenommen haben.

Die Kinder verlassen die Stadt …

Rudolf und Flora Sachs sorgen nicht nur für eine religiöse Erziehung ihrer Kinder, Rudolf gibt an drei seiner Söhne offenbar auch das Interesse am Handel mit Textilien weiter. Sein ältester Sohn Max ist zum Nachfolger bei Sachs & Berlowitz bestimmt, Kurt und Karl handeln später ebenfalls mit Stoffen. Ignatz hingegen, der am Weimarer Realgymnasium das Abitur macht, interessiert sich mehr für die Rechtswissenschaften: In Jena studiert er Jura, danach geht er ins südthüringische Meiningen, um dort sein Referendariat zu leisten. 1913 hat er sein zweites Staatsexamen geschafft und arbeitet fortan als Rechtsanwalt. Ende der zwanziger Jahre leitet er zudem ein Notariat.

Am Realgymnasium (hier: um 1930) machte Ignatz Sachs seinen Abschluss.

In Weimar bleibt zunächst nur Max, der mit Mitte Zwanzig in die Fußstapfen seines Vaters tritt und dritter Geschäftsinhaber bei Sachs & Berlowitz wird. Er heiratet die wenige Jahre jüngere Ella Oppenheimer, die aus dem bayrischen Burgkunstadt nach Weimar kommt. 1914 wird ihr Sohn Hans-Albrecht geboren, 1919 folgt Gerhard.

Emil Fischer (© Sammlung Udo Wohlfeld)

Die Kinder gehen noch nicht zur Schule, als ihr Vater Max am 12. Mai 1920 jung verstirbt. Max’ Witwe Ella hält zunächst noch die Anteile der Familie Sachs am Kaufhaus Sachs & Berlowitz. Doch gibt sie sie 1925, kurz bevor sie den am Deutschen Nationaltheater beschäftigten Sänger Emil Fischer heiratet, an die Familie Berlowitz ab. Trotzdem das Kaufhaus nunmehr nur noch von Familie Berlowitz geleitet wird, behält es seinen wohlbekannten Namen.

Die zwanziger Jahre sind für die Familie Sachs sicher keine leichte Zeit. Rudolf und Sephora verlieren ihren Sohn Max, vier Jahre später wird Sephora Witwe. Ihr bleibt nicht erspart, ein weiteres Kind zu beerdigen: 1926 stirbt ihre Tochter Hilde mit nur vierzig Jahren. Hilde hinterlässt ihren Mann Ignaz Eckstein und die drei Kinder Werner, Ellenrose und Elfriede. Auf ihrem Grabstein auf dem Erfurter jüdischen Friedhof erinnert eine von Goethe inspirierte Inschrift an sie: „Sie war edel, hilfreich und gut“. Den Ecksteins wird es nach den Novemberpogromen gelingen, nach New York auszuwandern.

1912 heiratet Hildes Schwester Käthchen Leon Heilbrun aus Nordhausen. Dieser wird noch vor dem Krieg in das KZ Buchenwald verschleppt – möglicherweise im Zuge der Novemberpogrome, da seine Familie in Nordhausen das Kaufhaus Heilbrun besitzt. Er verliert seine Frau 1939, ihre Todesumstände sind nicht bekannt. Im selben Jahr besteigt er mit seiner Familie die MS St. Louis, die zu einer Irrfahrt über den Atlantik aufbricht: Mit 937 deutschen Juden an Bord wird ihr von Kuba, den USA und Kanada trotz gültiger Papiere der US-Einwanderungsbehörde das Anlegen versagt. Die verzweifelten Flüchtlinge müssen zurück nach Europa und landen im Sommer 1939 in Antwerpen an. Von dort werden sie weiterverteilt, Leon Heilbrun muss in einem französischen Internierungslager ausharren. Schließlich bringt ihn ein Deportationszug nach Auschwitz.14

Die älteste Sachs-Tochter, Olga, heiratet 1907 den aus Barchfeld im Thüringer Wald stammenden Hugo Leopold, die Ehe wird allerdings wieder geschieden. Olga überlebt die Nazizeit, sie wird siebzig Jahre alt.

Mit ihrer Heirat verlassen alle Töchter der Familie Sachs Weimar.

Auch Kurt Sachs zieht es aus der Kleinstadt, zunächst einmal geistig: Während seine älteste Schwester Olga heiratet, schickt er – als ein begeisterter Leser von Abenteuerromanen – Karl May eine Schrift aus eigener Feder: „Karl May, eine Skizze über sein Leben und Schaffen“.15 Der Kontakt bleibt offenbar bestehen, denn seinem Sohn Peter erzählt Kurt später, dass er eine Korrespondenz mit Karl May pflegte, als der gerade mal wieder im Gefängnis saß, und dafür sorgte, dass einige Manuskripte ihren Weg aus dem Gefängnis zum Verleger fanden.
Karl May wird nicht seine letzte illustre Bekanntschaft sein: Als Jugendlicher taucht Kurt in die Künstler- und Musikerkreise Berlins ein. In der Hauptstadt macht er eine Lehre, arbeitet nebenbei am Theater und lernt unter anderen Kurt Weill, Franz Werfel und Richard Strauss kennen. Dass er deren Visitenkarten später sogar mit in die Emigration nimmt, zeigt, wie bedeutend ihm diese Zeit gewesen ist.
Die heiteren Zeiten beendet der Erste Weltkrieg: Kurt dient als Soldat an der Front, schließlich wird er zum Unteroffizier ernannt. Bei Kriegsende erhält er das Ehrenzeichen in Silber.

… und einige kehren zurück

Um 1923, mit Anfang dreißig, zieht er wieder nach Weimar. In der Grunstedter Straße 26 (heute: Richard-Wagner-Straße) eröffnet er eine Stoffgroßhandlung, die in den nächsten Jahren in die Gerberstraße 12 umzieht. Wie schon in Berlin, bewegt er sich in Weimar in den Künstlerkreisen der Stadt und lernt so die gleichaltrige Lilly Schmidt kennen, eine in der Schweiz aufgewachsene französische Sängerin. Sie heiraten 1925. Bevor sie mit Kurt Sachs zusammenkam, war Lilly für kurze Zeit mit dem Sänger Emil Fischer liiert, und wie es in Kleinstädten manchmal nicht ausbleibt, kann sich das Beziehungsgeflecht recht verworren gestalten: Lillys Ex-Mann Emil Fischer heiratet im gleichen Jahr Ella Sachs – die Witwe von Kurts verstorbenem Bruder Max Sachs.
Kurt und Lilly Sachs suchen sich in der Altstadt Weimars – in der Luthergasse nahe dem Marstall – eine Wohnung. 1929 kommt Sohn Peter auf die Welt, den sie katholisch erziehen. Sein Geschäft verlegt Kurt 1932/33 an den Bahnhofsvorplatz.

Auch Karl, der jüngste der Sachs-Brüder, kehrt in den zwanziger Jahren nach Weimar zurück. Er wohnt zunächst mit seiner Mutter in der elterlichen Wohnung. Um 1930 stirbt Sephora Sachs, und Karl zieht in die Sedanstraße 11 (heute: Brucknerstraße). Dort baut er einen Textilwarenversandhandel auf.

Berufsverbote, „Arisierung“, KZ-Haft: Familie Sachs flieht

Die ersten der Familie Sachs, die in den dreißiger Jahren die Zeichen der Zeit erkennen und flüchten, sind auch die jüngsten: Hans-Albrecht – Kurts Neffe16 – wandert 1934 zwanzigjährig nach Argentinien aus. Sein Bruder Gerhard folgt ihm 1936, gerade einmal 17 Jahre alt. Sie werden ihre Eltern nicht wiedersehen.

Während die ersten das Land verlassen, erhält Kurt Sachs erstaunlicherweise noch 1935 „im Namen des Führers“ ein weiteres Ehrenkreuz für Frontkämpfer. Sein in Meiningen lebender Bruder Ignatz Sachs bekommt den gesetzlich verordneten Antisemitismus früher zu spüren: Am 19. April 1933 wird er gezwungen, sein Notariat aufzugeben. Er arbeitet weiterhin als Rechtsanwalt und wird bald der einzige noch verbleibende jüdische Rechtsanwalt Meiningens sein. Im August 1938 soll er die rechtliche Betreuung der jüdischen Einwohner Meiningens übernehmen, doch erhält er schon einen Monat später Berufsverbot.17
Während dieser Zeit reift in ihm der Entschluss zur Flucht, und sicherlich diskutiert er auch mit seinen Brüdern Karl und Kurt über das Thema.

1938 wird in einem “Sonderbefehl” vom Lagerkommandanten Koch des KZ Buchenwald u.a. auf das Kaufhaus Sachs & Berlowitz und die Textilhandlung von Kurt Sachs aufmerksam gemacht – diese seien von den im KZ Buchenwald beschäftigten SS-Angehörigen zu boykottieren. Die Liste erfasst nicht nur “jüdisch” geführte Geschäfte, sondern gibt auch Auskunft über die Privatadresse von Kurt Sachs. (LATh – HStA Weimar, NS 4 Bu 33 Teil 1, Bl. 92r)

Kurt und Karl Sachs werden – wie auch die Familien Berlowitz, Leopold, Ortweiler und Kahn – 1938 zur „Arisierung“ ihrer Geschäfte gezwungen. Sachs & Berlowitz wird zum „Kaufhaus mit Herz“18 Hugo Oxen, ihre Textilunternehmen müssen die Brüder Sachs aufgeben. Kurts und Karls wirtschaftliche Existenz ist damit zerstört, ihnen bleibt nur noch die Flucht unter Zurücklassung jeglichen Vermögens oder ein Leben in Armut und Rechtlosigkeit.
Rückhalt bekommen die Sachs-Brüder von ihren Nachbarn: Kurts Nachbar, der Tischlermeister Werner Dünnebeil, und andere im Lutherhof wohnende Familien begegnen ihm weiterhin freundlich; Karl wird von seinem Wohnungsnachbarn unterstützt, dem Schlosser Albert Heubner, der später selbst von der Gestapo verfolgt wird.19

Die Sachs-Brüder gehören zu jenen Weimarer Juden, die im Verlauf der Reichspogromnächte verhaftet und nach Buchenwald verschleppt werden. Wer kann, flüchtet nach seiner Entlassung aus Buchenwald ins Ausland –, solange es noch möglich ist. Das Zeitfenster der möglichen Auswanderung schließt sich rasch.20 Einige aber erliegen den Strapazen, die sie erleiden mussten: Albert Ortweiler – der zusammen mit Rudolf Sachs den Israelitischen Religionsverein gründete – und der jüdische Chemiker Hans Adolf Salomon sterben im Dezember an den Folgen der Haft.

Nach den Novemberpogromen wurden etwa 30 000 Juden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Hier eine Aufnahme von verhafteten jüdischen Männern in Baden-Baden. (Bundesarchiv, Bild 183-86686-0008 / CC-BY-SA 3.0)

Kurts Sohn Peter berichtet später über diese Zeit: „Mein Onkel Ignatz, der in Meiningen wohnte, war auf der Reise nach Weimar und hat dadurch die Verhaftung vermieden.“ Da Peters Mutter Lilly 1937 starb und er als Neunjähriger nun allein zu Hause ist, wird er „in den drei Wochen, als Kurt und Karl im K.L. waren, […] nach Hamburg zu Freunden geschickt.“
Am 2. Dezember werden sein Vater und sein Onkel Karl entlassen. Ignatz erhält noch im selben Monat eine „Sicherungsanordnung“ über sein Vermögen.21 Damit darf er nicht mehr frei über sein Geld verfügen. Peter Sachs berichtet: „Nach der Entlassung sind wir (Kurt, Ignatz und ich) nach Südamerika ausgewandert. Karl ging nach China.“
Wohl, weil sie Verwandte in Bogotá haben, gelingt Ignatz, Kurt und Peter die Flucht. Karl schafft es nach Shanghai.

Das Ende der jüdischen Gemeinde

Und die Weimarer jüdische Gemeinde? Zwischen Dezember 1938 und April 1939 aus dem KZ Buchenwald entlassene jüdische Häftlinge berichten, dass die verbliebenen Gemeindemitglieder zum Weimarer Bahnhof kamen, um sich um sie zu kümmern: Sie brachten warme Getränke, informierten über neue Verordnungen und leisteten auch seelischen Beistand, hin und wieder gaben sie Fahrgeld.22 Ihre gemeinsamen Gänge zum Bahnhof sind die letzte Spur der Bemühungen von Rudolf Sachs und seinen Mitstreitern um eine gemeinsam gelebte jüdische Identität.
Doch werden die Helfer selbst entrechtet, verfolgt und verhaftet, jeder bangt um seine Familie und das eigene Leben. Die jüdische Gemeinde Weimars erlischt in den folgenden Kriegsjahren.

1 Vgl. https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/u-z/2053-weimar-thueringen

2 Eine Mikwe ist ein jüdisches Ritualbad. Sieben Stufen führen in „lebendiges“ Wasser, also Wasser natürlichen Ursprungs wie Regen- oder Grundwasser. Die Badenden erreichen rituelle Reinheit durch vollständiges Untertauchen. In der Nähe des Hauses, an der heutigen Ecke Windischenstraße/Marktstraße, floß noch sichtbar die Lotte, ein Bach, der von Nohra kommend in die Ilm mündete und Weimar in einen älteren nördlichen und einen jüngeren südlichen Bereich teilte; vgl. https://transitionweimar.wordpress.com/2012/10/05/die-lottewanderung/. Die Nutzung des anstehenden Grundwassers ist naheliegend.

3 Schmidt: Familien, S. 26

4 Eine jüdische Gemeinde ist die organisierte Form der Gemeinschaft jüdischer Bewohner eines Ortes. Sie ermöglicht eine teilweise Selbstverwaltung in Angelegenheiten, die von religiösem Belang sind. So stellt sie z.B. sicher, dass ihre Mitglieder Gottesdienste abhalten, Religionsunterricht durchführen und nach jüdischem Brauch beerdigt werden können. Im frühen Mittelalter erstreckte sich ihre Funktion auch auf den rechtlichen Bereich: Streitigkeiten unter Mitgliedern wurden innerhalb der Gemeinde gerichtlich geklärt, die Strafen konnen von Geld- und Haftstrafen bis hin zur Exkommunikation aus der Gemeinschaft reichen. (Vgl. Brenner: Kleine jüdische Geschichte, 115)

5 Vgl. http://www.alemannia-judaica.de/bibra_synagoge.htm

6 Adressbuch für die Stadt Weimar 1900

7 Werden 1890 noch 70 jüdische Personen in Weimar gezählt, sind es fünf Jahre später schon 14 mehr.

8 Das Versöhnungsfest ist der höchste jüdische Feiertag. Er fällt in den September oder Oktober. Zusammen mit Rosch Haschanah, dem zehn Tage zuvor stattfindenden Neujahrstag, bildet er die „Hohen Feiertage“.

9 Der Deutsch-Israelische Gemeindebund fungierte seit 1869 als eine Art Dachverband der lokalen Kultusgemeinden und vertrat die Interessen der Gemeinden gegenüber dem Staat. Vgl. Lou Bohlen: Jüdische Vergemeinschaftung nach 1900, in: Michael Geyer (Hg.), Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft, Wallstein 2006, S. 323

10 LATh – HStA Weimar, Landrabbinat 150, Bl. 24

11 … wie das Beispiel des Jenaer Religionsvereins nahelegt, vgl. Müller/Stein: Familien, S. 48

12 In den Akten sind regelmäßig nur Männer genannt, doch sollte das nicht zu der Annahme verleiten, Frauen hätten sich nicht engagiert. So ist beispielsweise von Regina Eisenbruch bekannt, dass auch sie in der jüdischen Gemeinde aktiv war.

13 Die im 19. und 20. Jahrhundert stattfindende Emanzipation der Juden ging mit einer „Assimilation“ an die christliche Mehrheitsgesellschaft einher. Sie zielte auf ihre stärkere Integration ab, führte aber auch oft zum Verlust der jüdischen Traditionen und des jüdischen Glaubens. Vgl. Brenner: Kleine jüdische Geschichte, S. 189 ff.

14 Vgl. https://secure.ushmm.org/online/st-louis/detail.php?PassengerId=316&referer, siehe aber auch: https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=11517781&ind=1 und https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1125705.

15 Vollmer: Briefwechsel mit Sascha Schneider, S. 259

16 Gerhard Sachs ist der Sohn von Ella und Max Sachs und Stiefsohn Emil Fischers.

17 Dewaldt: Diskriminierung, S. 57

18 So das Werbemotto der neuen Besitzer nach Arisierung des Geschäfts.

19 Stein: Familien, S. 193 f.

20 Insbesondere gab es große finanzielle Hürden. Vgl. https://www.auswanderung-rlp.de/emigration-in-der-ns-zeit/allgemeines-juedische-auswanderung.html

21 Dewaldt: Diskriminierung, S.57

22 Müller/Stein: Familien, S. 133

Text: svdf

Quellen:

LATh – HStA Weimar, Landrabbinat 150
Adressbücher der Stadt Weimar 1900, 1920, 1929, 1931, 1937
Eva Schmidt: Jüdische Familien im Weimar der Klassik und Nachklassik, Weimar 1993, Stadtmuseum
Eike Küstner: Jüdische Kultur in Thüringen: Eine Spurensuche, 2012, Sutton
Harry Stein, Erika Müller: Jüdische Familien in Weimar, Stadtmuseum Weimar 1998
Lou Bohlen: Jüdische Vergemeinschaftung nach 1900, in: Michael Geyer (Hg.): Die Gegenwart Gottes in der modernen Gesellschaft, Wallstein 2006
Michael Brenner: Kleine jüdische Geschichte, München 2008, Beck
Karl Mays gesammelte Werke, hg. v. Hartmut Vollmer, Bd. 93: Briefwechsel mit Sascha Schneider, Bamberg / Radebeul 2009, Karl-May-Verlag
Sebastian C. Dewaldt, Heiko Ziemer: Diskriminierung und Ausgrenzung per Gesetz: Schicksaler jüdischer Notare und Konsulenten im OLG Bezirk Jena zur Zeit des Nationalsozialismus, Societas 2014, Jena

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