Online-Diskussion zur NS-Euthanasie

„… nicht als Objekt zu behandeln, sondern als Mensch.“

Virtuelle Podiumsdiskussion zu den nationalsozialistischen Euthanasiemorden in Thüringen und dem heutigen Umgang mit „Normalität“

 

Diskussionsgäste:

        • Lisa Caspari, wissenschaftlich-pädagogische Projektmitarbeiterin am Erinnerungsort Topf & Söhne
        • Tina Rudolph, Medizinethikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der FSU Jena
        • Thea Jacob, Freie Historikerin
        • Doreen Hadlich, Mitarbeiterin der Verwaltung und Beirätin im Lebenshilfewerk Weimar/Apolda e. V.

Moderation:
Dr. Justus Ulbricht, Historiker und Publizist

Inhaltsübersicht:
0:05 Begrüßung und Einführung ins Thema NS-Euthanasie
1:55 Zur Erinnerungskultur – „Volksgemeinschaft“ und Ausgrenzung – lokale Erinnerungskultur in Weimar
4:09 Themen und Fragen der Diskussion
6:27 Wie reagieren Menschen auf Berichte über die Arbeit von Topf&Söhne und die NS-Euthanasie?
10:42 Wie kann das Thema NS-Euthanasie in den Diskurs gebracht werden?
13:41 Täterschaft im NS und die Folgen der Verweigerung
16:50 Geschichte der Euthanasie, Bedeutung des Begriffs und Umsetzung im NS-Staat
21:30 War der Sozialdarwinismus verbunden mit dem Aufstieg des Nationalismus?
23:06 Vorstellung eines Projekts des Lebenshilfewerks Weimar-Apolda zur NS-Euthanasie:  historisch-politische Bildung mit Menschen mit Handicap (zur Geschichte der Elise Frank siehe hier)
32:30 Wie wichtig ist der lokale Bezug bei solchen Themen?
35:45 Welche Rolle spielt das Alter bei der Annäherung an das Thema?
37:00 Jeder von uns ist vulnerabel.
38:54 Der Umgang mit der Vergangenheit: Schweigen und Reden
43:37 Welchen Stellenwert hat historisches Wissen bei ethischen Abwägungen? 
– Wir brauchen die ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um uns über unsere eigenen Handlungsweisen und -maximen klar zu werden!
47:13 Bezüge, aber auch Unterschiede zwischen heute und damals müssen differenziert werden: Zum Beispiel wird die Frage: „Darf sich jemand anmaßen, den Wert des Lebens von außen zu beurteilen?“ heute anders beantwortet als damals.
51:07 Wer sichert die moralischen Standards einer Gesellschaft?
– Goethe-Leser haben Gaskammern gebaut. Christen haben Einsatzgruppen geleitet.
53:30 Horizonterweiterung und Aufgeschlossenheit helfen gegen Vorurteile. Wie können wir den Gefühlen und Haltungen hinter den Vorurteilen entgegentreten?
58:08 Zum Leben der Täter der NS-Euthanasie in der Bundesrepublik und die entschuldigende Haltung der Bevölkerung
1:01:37 Zum Austausch von Medizinethik und Geschichtswissenschaften in Jena
– Siehe: Susanne Zimmermann, Überweisung in den Tod; Jenaer Erklärung: Rasse wird konstruiert, um Rassismus zu begründen.
1:05:00 Was ist noch zu tun bezüglich der Aufklärung zu NS-Euthanasie und Alltagsrassismus?
1:05:58 Es fehlen verschiedene Zugänge des Lernens.
– Wie stellen Medien Menschen mit Beeinträchtigungen dar? Was haben unsere Sprachgewohnheiten damit zu tun?
1:09:40 Wir brauchen sprachliche Barrierefreiheit, sichere Settings für historisches Lernen, mehr Assistenz (pädagogische Kräfte, finanzielle Mittel) und einen generellen Perspektivwechsel: Stärken betonen statt Schwächen herausstellen
1:15:19 Wie gehen wir mit dem Sterben der Zeitzeug*innen um?
Wir müssen uns die Frage stellen: Was werden künftige Generationen über uns denken und uns fragen?
– Das können Fragen sein nach unserem Umgang mit den Toten im Mittelmeer, aber auch mit Firmen wie VW, die in China in unmittelbarer Nähe von „Umerziehungslagern“ für Uiguren eine Fabrik baut, und mit Flüchtlingslagern wie in Moria.
1:25:04 Hat die Beschäftigung mit aktuellen medizinethischen Fragen eine Auswirkung auf die historische Arbeit?
Die Aktualität medizinethischer, politischer und gesellschaftlicher Fragen zeigt sich in der Pandemie – z.B. wenn es um Solidarität geht. Eine Lehre aus der Geschichte ist: Was passiert, wenn gesellschaftliche Solidarität aufgekündigt wird? Was passiert, wenn gesellschaftliche Grundlagen wie die Würde des Menschen außer Kraft gesetzt werden?
1:27:32 Pränataldiagnostik, Sterbehilfe: Wie gehen wir mit „Problemen“ um? Wir sollten einen anderen Umgang damit finden und sie nicht einfach nur als Probleme sehen.
1:32:19 Die Unterstützung unterschiedlicher Menschen in allen Lebenslagen ist gesellschaftlich möglich und nötig, und sie setzt nicht die Beschneidung von Freiheiten voraus. Wir brauchen Investitionen in menschenwürdiges Leben und Sterben.

Ein kurzer Blick auf den historischen Hintergrund der Diskussion:

Dem Verbrechen der nationalsozialistischen „Euthanasie“ liegen das Konzept der „Volksgemeinschaft“ und die Eugenik, die Erbgesundheitslehre, zugrunde.

Der Leipziger Volksbrockhaus aus dem Jahr 1943 definiert „Volksgemeinschaft“ – ein zentraler Begriff der NS-Ideologie – als „die auf blutmäßiger Verbundenheit, auf gemeinsamem Schicksal und auf gemeinsamem politischem Glauben beruhende Lebensgemeinschaft eines Volkes“. Der Begriff wurde schon im ausgehenden 19. Jahrhundert häufig verwendet und diente als Gegenbild zur modernen, von Konflikten und sozialen Gegensätzen geprägten „Gesellschaft“. Der Soziologe Ferdinand Tönnies beschreibt 1887 die Volksgemeinschaft als eine Verbindung durch gewachsene Strukturen. Eine „Gemeinschaft“ aus Familie, Nachbarschaft und Volk stand dem egoistischen Individualismus der „Gesellschaft“ gegenüber.

Für die NSDAP und in den Reden Adolf Hitlers spielt der Begriff der Volksgemeinschaft eine große Rolle. Sein Konzept beinhaltet zwei wesentliche Elemente: das der Gemeinschaft, die eine Weltanschauung – und nicht einfach nur eine politische Idee – verbindet, und das der Zugehörigkeit dieser Gemeinschaft zur „arischen Rasse“. Volksgenosse oder -genossin konnte also nur sein, wer als „arisch“ galt, außerdem war das Bekenntnis zum Führerprinzip bzw. zum Führer selbst notwendige Voraussetzung dafür, ein vollwertiges Mitglied zu sein. Unterordnung und Gehorsam wurden belohnt mit Bevorteilung und der Inszenierung von Gleichheit, Solidarität und Zusammengehörigkeit.
Die Organisation der Bevölkerung in NS-Organisationen wie Hitlerjugend, Bund deutscher Mädel, SA, SS, Deutsche Arbeitsfront und nicht zuletzt in der Partei selbst, die unzählige Kreis- und Ortsgruppenleiter, Block- und Zellenwarte bis in den letzten Winkel des Landes hatte, führte zu einem engmaschigen Netz der sozialen Kontrolle, aber auch der Machtteilhabe im Sinne nationalsozialistischen Ideologie.
Demokraten, Kommunisten, Gewerkschaftler und alle, die sich der nationalsozialistischen Erziehung – eine Grundbedingung für den Erfolg der NS-Politik – widersetzten, waren nicht einfach Gegner der Nazis, sondern wurden aus der „deutschen Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen. Ohnehin an den Rand gedrängt waren Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, aber auch Kranke und dauerhaft Hilfsbedürftige. Exklusion gehört wesentlich zur Idee der „Volksgemeinschaft“ und zeigte sich in verwehrten Mitgliedschaften in Organisationen, Berufs- und Schulverboten, Eheverboten mit „arischen“ Partnerinnen oder Partnern bis hin zu Zwangssterilisationen, Zwangsarbeit und Ermordungen.

Das Ziel der „Volksgemeinschaft“ war also keine Gemeinschaft der sozialen Geborgenheit und Gerechtigkeit, sondern der Aufbau einer geschlossenen und leistungsfähigen sowie unmissverständlich „erb- und rassenbiologisch“ definierten Nation.

Die Vorstellung einer Gemeinschaft „deutschen Blutes“ war eng verklammert mit der Auffassung, die Deutschen würden einen „Volkskörper“ bilden, dessen „Reinheit“ durch „Rassenhygiene“ hergestellt und gesichert werden müsse.
Dieser „erb- und rassenbiologische“ Aspekt beruht auf den Theorien der Eugenik, die in der Weimarer Republik insbesondere ab der Veröffentlichung 1920 von Alfred Hoches und Karl Bindings Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ eine breitere gesellschaftliche Rezeption und Diskussion erfuhren.
Es lässt sich eine Radikalisierung im Umgang mit ethischen Werten beobachten: Mit Hilfe des trojanischen Pferdes der „objektiven Wissenschaft“ werden menschenfeindliche Forderungen in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs eingeführt.

Wenige Jahre später, 1923, wurde der erste deutsche „Lehrstuhl für Rassenhygiene“ in München eingerichtet. Auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP 1929 erklärte Hitler schließlich öffentlich, würde man von den im Deutschen Reich pro Jahr 1 Million Neugeborenen etwa 700.000 bis 800.000 der Schwächsten beseitigen, würde das eine Stärkung der Nation bedeuten.

Im NS-Staat galten jene als „lebensunwert“, die psychische, physische oder seelische Beeinträchtigungen hatten oder als Angehörige einer „minderwertigen Rasse“ angesehen wurden.
Das wissenschaftlich unhaltbare Konzept der Menschenrasse wurde genutzt, um eine vermeintlich objektive Begründung für die ungleiche Behandlung von Menschen liefern zu können: Die „Rasse“ unterschied sie, und diesem Unterschied“ wurde eine Wertigkeit beigelegt – bis hin zur Negierung jeglichen Werts im monströsen Schlagwort des „lebensunwerten Lebens“.

Auf diesen Grundlagen wurden Fakten geschaffen, die tief in das Leben der Menschen einschnitten: von der systematischen Erfassung und Zwangsbehandlung von „Erbkranken“ über erbbiologisch ausgerichtete Ehevorschriften (u.a. Verbot von „Mischehen“ zwischen „arischen“ und „jüdischen“ Personen) und zunehmend häufige Einweisungen von sozial auffälligen und kranken Personen in Heime – die zunehmend Arbeitshäusern glichen – und Heil- und Pflegeanstalten – die eigentlich Tötungsanstalten waren – bis hin zur Ermordung von kranken Kindern im Rahmen der geheimen „Kindereuthanasie“ und dem Massenmord an Patientinnen und Patienten der Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich in seinen besetzten Gebieten.

In Zahlen ausgedrückt: Bis 1945 wurden thüringenweit ca. 16.000 Sterilisationen durchgeführt, reichsweit etwa 400.000. Circa 300.000 Männer, Frauen und Kinder wurden zwischen 1939 und 1945 im Rahmen der Euthanasieaktionen durch Vergasung, Medikamentenüberdosis oder -entzug und Verhungernlassen ermordet.

In Weimar wurde neben vielen anderen das Mädchen Erika Haase Opfer der nationalsozialistischen Euthanasiemorde. Ihr Leben ist hier nachgezeichnet. Für Erika Haase, zu deren Leben und Sterben am 20.12.2020 ein Artikel in der Thüringer Allgemeine erschienen ist, wird im August 2021 ein Stolperstein verlegt.