Elise Frank
Paul-Schneider-Straße 44
„Jedes Jahr, wenn diese Zeit kommt, muss ich daran denken, wie lang dieser Albtraum […] für sie gewesen sein muss, die niemals selbstbestimmt gelebt hat und die allein und in äußerster Verzweiflung sterben musste. Zur Zeit ihrer Deportation litt sie an einer Herzkrankheit. Es ist unglaublich, was diese arme, arme Frau an Qual und Schmerz durchgemacht haben muss.“1
Elise Frank hatte viele Albträume in ihrem Leben. Doch war keiner so entsetzlich wie ihr Leben in jenen 43 Tagen im Sommer 1942.
Die Angst vor dem Verlust der Familie und der Freunde, vor der Hilflosigkeit, dem Tod, der Einsamkeit, und manchmal auch vor der nächtlich-leeren Straße … diese Ängste überkommen jeden irgendwann.
Doch Elise Frank muss noch viele Ängste mehr durchstehen. Der Umgang mit anderen Menschen, laute Geräusche, Gespräche mit Unbekannten belasten sie; sie fühlt sich dem Alltag nicht gewachsen. Und wie ein junger Baum unter künstlich-idealen Bedingungen kaum eine Abwehr auszubilden vermag, so wird Elises Widerstandskraft geschwächt durch die übermäßige Sorge und Schonung, die sie von klein auf erfährt.
Das Königskind
Im Spätsommer 1874 wird Elise in die vermögende Kölner Kaufmannsfamilie Frank geboren. „Elise“ heißt sie vielleicht nach der Großmutter, vielleicht aber auch nach dem Klavierstück von Beethoven. Die Franks haben eine Schwäche für literarische und musikalische Anspielungen; so ist auch die Jüngste, Agnes, nach einer Figur in Charles Dickens’ „David Copperfield“ benannt.
Elises Vater David Frank, der Familienpatriarch, trägt „wegen seiner Weisheit“ den Spitznamen „König David“ – nach dem biblischen Hirten, der den Riesen Goliath mit einer Steinschleuder besiegte. Charlotte Levy, seine Enkelin, erinnert sich: „Nichts wurde in dieser großen Familie ohne seinen Rat unternommen. Mein Vater nannte ihn, seinen Schwiegervater, den klügsten Mann, den er kannte.“
Dass ihm diese Hochachtung nicht grundlos entgegengebracht wurde, lässt die Beherztheit seiner jungen Jahre erkennen. Schon mit 16 Jahren, 1856, eröffnet David Frank in Paris ein Textilgeschäft und verkauft Seidentücher und Wollwaren. Später baut er mit zweien seiner Brüder ein Handelsgeschäft in Köln auf.
Schließlich, mit 26 Jahren, heiratet er am 16. April 1866 Bertha Ems. Bei der Erziehung ihrer vier Söhne und zwei Töchter spielt der traditionelle jüdische Glaube keine Rolle. Die Franks legen als „emanzipierte Juden“ weniger Wert auf religiöse Belange als darauf, sich als gleichberechtigte Deutsche ins gesellschaftliche Leben einzubringen.
Ihr Frauenbild allerdings ist nicht gerade fortschrittlich, was sich auf Elises Befinden nachteilig auswirkt. Das sensible Kind erfährt die ihrer Zeit und ihres bürgerlichen Standes gemäße Bildung: Mädchen lernen den Haushalt zu führen, sie üben sich im Musizieren und in der Handarbeit, erhalten gerade so viel Allgemeinbildung, dass sie angenehme Gesprächspartnerinnen sein können, und sie wissen sich in Gesellschaft und in der Familie zu benehmen. Eigenständigkeit oder gar einen Beruf erlernen sie nicht.
Elise, mit feinen Gesichtszügen, blauen Augen und dem schwarzen Haar ein schönes Mädchen, erfüllt die Erwartungen an sie zu aller Zufriedenheit: Sie ist begabt im Klavierspiel und Gesang, liest viel und gerne und wirkt „makellos in ihrer Erscheinung und in ihrem Benehmen“. Trotzdem sie nicht die Jüngste ist, ist sie wohl das Nesthäkchen der vielköpfigen Familie und besonders ihres Vaters.
Letzteres ist wohl auch dem Umstand geschuldet, dass sie seine Fürsorge besonders zu brauchen scheint. Sie ist kränklich, empfindlich, nervös. Doch statt sie behutsam auf das Leben vorzubereiten, schützt und verwöhnt sie der Vater über alle Maßen und festigt so ihre ausgeprägte Abhängigkeit und Unselbstständigkeit.
Eine eigene Familie
Fortgeführt wird dieses Muster von ihrem späteren Ehemann Richard Frank, den sie an ihrem 24. Geburtstag heiratet (trotz der Namensgleichheit sind die Familien nicht verwandt). Richard ist Mitinhaber einer großen Leipziger Strickwarenfabrik, die die (damals) bekannte Marke „Hammer“ vertreibt. Er ist seiner Zeit voraus, denn er lässt in seiner Fabrik Duschen und Kantinen für die Arbeiter einrichten. Doch kümmert er sich nicht nur um das Wohlergehen „seiner“ Arbeiter, er umsorgt auch Elise, die zu ihm nach Leipzig zieht, ebenso umfassend wie zuvor ihr Vater.
Im Sommer 1900 kommt Tochter Charlotte auf die Welt, Martha folgt ihr fünf Jahre später. Nun sieht sich Elise nicht nur mit den Pflichten einer Ehefrau, Mutter und Hausherrin konfrontiert, auf sie kommen auch die typischen Aufgaben einer Unternehmergattin zu: Gastgeberin sein, ihren Mann zu gesellschaftlichen Anlässen begleiten, den Umgang mit seinen Geschäftspartnern, Angestellten und Kunden pflegen.
Das alles überfordert sie, ihre Empfindlichkeit steigert sich ins Extreme und sie zieht sich aus jeglichem gesellschaftlichen Leben zurück. Es häufen sich die Aufenthalte in Sanatorien, wo man unter anderem mit Hilfe der neu entdeckten psychologischen Methode vergebens ihre Depressionen und Phobien zu mildern versucht. Schließlich, 1919, ein Lichtblick: Auf Drängen von Elises Bruder Gerhard und Tochter Charlotte gibt Richard sie in das Privatsanatorium „Tannenfeld“ bei Gera in Behandlung.
Dort lernt sie die Oberschwester Maria Steffens kennen, die einen guten Zugang zu ihr findet. Charlotte schreibt in ihren Erinnerungen: „In ihrer bestimmten und mitfühlenden Art übte sie einen äußerst günstigen Einfluss auf meine Mutter aus …“
Elise erholt sich langsam, die Familie atmet auf. Elises und Richards Ehe kann das jedoch nicht mehr retten. 1926 wird sie in beiderseitigem Einvernehmen geschieden.
Im Jahr darauf zieht Elise in die Weimarer Lottenstraße 44 (heute Paul-Schneider-Straße), in ein Haus, das Richard Frank bauen lässt. Es ist als Unterstützung von Maria Steffens’ Vorhaben gedacht, nach Tannenfelds Auflösung privat mit einigen Patienten, darunter Elise, weiterzuarbeiten. Durch Richards Bedingung, dass seiner Frau bis zu ihrem Lebensende drei Zimmer des Hauses zur Verfügung stehen müssen, geht er sicher, dass gut für sie gesorgt ist.
Das Refugium in Weimar
Während der nächsten Jahre, so scheint es, kommt Elise zur Ruhe. Für eine Genesung ist der wohltuende Einfluss von Maria Steffens wohl zu spät in ihr Leben getreten, doch sind zumindest keine weiteren Aufenthalte in Sanatorien bekannt. Der Kontakt zur Familie bleibt eng, Elise wird von Richard, der 1926 neu geheiratet hat, und den erwachsenen Kindern oft besucht. Auch nimmt sie hin und wieder die Reise nach Leipzig auf sich. Dort erwartet sie inzwischen eine große Familie: Charlotte heiratet 1929 Berthold Levy, einen Angestellten und späteren Geschäftspartner ihres Vaters, und sie bekommen noch im selben Jahr einen Sohn, Hans Richard. Die Tochter Elisabeth wird 1938 geboren. Martha und Ernst Heymann bekommen 1934 eine Tochter, Eva Lore.
Die Not ihrer Nächsten
Doch bald schon muss Elise Abschied von ihrer gesamten Familie nehmen.
Martha und Ernst gelingt es, mit Tochter Lore in die USA zu emigrieren. Charlotte und ihre Familie kann nicht so schnell flüchten, ihnen wird das Bleiben zum Verhängnis. Ihr schwerkranker Mann, Berthold Levy, wird am 10. November 1938, bei einer „Sonderaktion“ zur Pogromnacht, verhaftet und grausam misshandelt. Nach elftägiger Qual wird er freigelassen und beschließt mit seiner Frau, den neunjährigen Hans Richard auf einen der „Kindertransporte“ nach England zu schicken. Diese Transporte bedeuten eine wesentliche Lockerung der Einreisebestimmungen für jüdische – jedoch ausschließlich minderjährige – Flüchtlinge nach Großbritannien; die britische Regierung ermöglicht dieses „Refugee Children Movement“ unter dem Eindruck der Novemberpogrome.
Mitte März 1939 verabschiedet Berthold Levy sich noch von seinem Sohn, kurz darauf stirbt er an den Folgen der Misshandlung. Ende August entkommen Charlotte und ihre anderthalbjährige Tochter mit dem letzten Flug vor Kriegsbeginn nach Großbritannien. Mit Hans Richard schaffen sie es später in die USA, zu Martha und ihrer Familie.
Richard Frank und seine zweite Frau Amanda Lawranz, beide inzwischen über sechzig, wollen den Töchtern folgen und bitten die USA um eine Einreisegenehmigung, doch wird ihr Ersuchen abgelehnt: Es bestehe keine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Amanda und den Töchtern, zudem sei die Einreise aufgrund einer Krankheit Amandas nicht gestattet. Lediglich Richard dürfe kommen.
Er bleibt bei Amanda und überlebt das Dritte Reich dank ihr. Sie gilt als „arisch“ und weigert sich standhaft, sich von ihm zu trennen. Der Umzug in ein „Judenhaus“ bleibt den beiden dennoch nicht erspart. Auch Richards Enteignung wird mit Eifer von Sachsens Reichsstatthalter Martin Mutschmann vorangetrieben. Mutschmann betreibt mehrere Textilfabriken und verspricht sich durch die Ausschaltung der Konkurrenz wirtschaftliche Vorteile. Doch Richards Fabrikangestellte behalten ihn in guter Erinnerung und helfen ihrem ehemaligen Chef, indem sie ihm Lebensmittel bringen. Jene, die früher mit ihm „tafelten“, grüßen hingegen nicht einmal mehr.
Von rund 13 000 jüdischen Bürgern Leipzigs überleben nicht mehr als zwei Dutzend, die meisten durch den Schutz der „Mischehe“ oder Emigration.
Die Antwort der Nazis auf das vermeintlich Andere
Auch Elise Frank entkommt dem Vernichtungssystem der Nazis nicht. Zwar scheint die Unterbringung in Maria Steffens Obhut sie vor einem Zwangsumzug in eines der „Judenhäuser“ Weimars zu schützen, doch Elise ist als Jüdin und psychisch Kranke in größter Gefahr.
Die nationalsozialistische Ideologie beurteilt Menschen vor allem nach einem wirtschaftlichen Maßstab: „lebenswert“ ist nur, wessen Arbeitskraft mehr einbringt, als seine Unterbringung und Pflege kostet. Hilfsbedürftigkeit soll „beseitigt“ werden, indem die Betroffenen isoliert und getötet werden. Doch Krankheit und Notlagen gehören zum Leben, und so droht potentiell jedem, durch das Raster der „Normalität“ – und Rentabilität – zu fallen und auf radikalste Weise aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden.
Gerade hier zeigt sich die seelische und emotionale Armut der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“: Sie ist der Herausforderung nicht gewachsen, mit Menschen, die ihrer lebensfremden Norm nicht entsprechen, respektvoll und zugewandt umzugehen. So werden Gehörlose und Blinde, manisch-depressive und schizophrene Menschen, Epileptiker und Menschen mit erblichen körperlichen Behinderungen ab 1933 zwangssterilisiert. Und die Gewalt zieht weitere Kreise: Alkoholiker, Obdachlose, Fürsorgeempfänger, Prostituierte und Homosexuelle werden als sogenannte Asoziale verfolgt und in Konzentrationslager verschleppt. Die Konzentrationslager bedeuten „Vernichtung durch Arbeit“, in den Anstalten für psychisch Kranke verhungern Patienten, weil für ihre Verpflegung kaum Gelder bewilligt werden, und schließlich erlässt Hitler im Sommer 1939 den „Euthanasiebefehl“, woraufhin zehntausende geistig Kranke und Behinderte ermordet werden. Viele von ihnen wurden zuvor in Anstalten eingewiesen, um leichteren Zugriff auf sie zu haben.
Allerdings bedeutet auch die private Pflege, zum Beispiel durch Angehörige, keine Sicherheit vor der staatlich angeordneten Ermordung. So muss auch Elise im Juni 1942 ihr Weimarer Zuhause verlassen und in die „Jacoby’sche Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Gemütskranke“ im rheinländischen Sayn ziehen. Diese Anstalt war früher ein Sanatorium, das sich speziell an jüdische Patienten richtete – so wurden hier zum Beispiel die Vorschriften der koscheren Essenszubereitung oder der Sabbat befolgt. Unter der Naziherrschaft wird das Sanatorium umfunktioniert: Als Vorbereitung der Deportation werden hier ab 1940 alle als jüdisch geltenden Menschen mit psychischen Erkrankungen „gesammelt“. Auf dem Gelände werden bald Baracken errichtet, um mehr als 500 Menschen unterbringen zu können.
Fünf Transporte fahren 1942 von Sayn ab, bis das Sammellager leer ist. Den letzten Transport besteigen auch die Pfleger und Ärzte. Nur drei Angestellte überleben.
Der vierte Deportationszug nimmt Elise Frank am 27. Juli 1942 mit nach Theresienstadt. Dem Schrecken ihrer letzten Tage hat Elise nichts entgegenzusetzen, er ist nicht zu ertragen.
Am 7. August stirbt sie.
1 Alle Zitate sind den Erinnerungen von Charlotte Levy, Tochter von Elise Frank, entnommen. ↩
„In allen Lüften hallt es wie Geschrei“ ist eine Zeile aus dem Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis. Van Hoddis war ab 1930 Patient in den Jacoby’schen Heil- und Pflegeanstalten. Dort musste er 1942 den zweiten Deportationszug besteigen und wurde wahrscheinlich in Sobibór ermordet.
Text: svdf
Quellen:
Materialsammlung Marianne Wintgen, übersetzt von Lydia Lange und bearbeitet von Marianne Wintgen:
Erinnerungen der Tochter Charlotte Levy (privat)
Genealogie von H. Richard Levy (privat)
Hermann von der Dunk (Großneffe von Elise Frank), Rückblick im Abendlicht. Jugenderinnerungen, Amsterdam, 2008
http://www.bendorf.de/stadt-buerger/geschichte/jacobysche-anstalt/ (01.04.2016)
http://www.bendorf-geschichte.de/bdf-0155.htm (01.04.16)
http://juden-in-sachsen.de/leipzig/personen/FrankRichard.html (01.04.16)
Weitere Literatur:
Ulrich Völkel (Hg.): Stolpersteingeschichten Weimar, Weimar 2016, Eckhaus-Verlag