Unter unglücklichem Stern

Else Fretzdorff
geboren am 02.01.1877 in Zohlow b. Frankfurt/O. [heute:Sułów (Rzepin)]
ermordet am 27.11.1940 in Sonnenstein (Pirna)

1919/1920 Wintersemester Bauhaus Weimar (Weberei und Stickereiabteilung)

Else Fretzdorffs Schicksal stand von Anfang an unter einem unglücklichen Stern, soweit es sich aus den wenigen Informationen zu ihrem Leben rekonstruieren lässt. Die Geschichte ihrer Familie ist durchzogen von Krankheit und Tod – und liest sich wie ein Dokument des kontinuierlichen sozialen Abstiegs. Aber es bleiben blinde Flecken.
Else Fretzdorff wurde 1877 in Zohlow bei Frankfurt/O. als Tochter des dortigen Rittergutsbesitzers geboren. 1911 wurde das Gut verkauft und die Familie zog nach Charlottenburg.1 Elses Bruder erschoss sich 1912, der Vater starb 1914. Die Mutter Gertrud war seit Jahren psychisch krank. Auch Else Fretzdorff hielt sich bereits in ihren Jugendjahren mehrfach in Pflegeanstalten auf – dies vermerkte sie in aller Klarheit in ihrem Lebenslauf, mit dem sie sich später am Bauhaus bewarb.2

Lebenslauf Else Fretzdorff, Okt. 1919, Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatliches Bauhaus, Nr. 151, Bl. 325v/r.
Lebenslauf Else Fretzdorff, Okt. 1919, Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatliches Bauhaus, Nr. 151, Bl. 325v/r.

Ob es finanzielle oder gesundheitliche Schwierigkeiten waren, weshalb die Familie 1911 ihr Gut verkaufte, ist unklar. Der Vater Bruno Fretzdorff, am 28. Juni 1844 in Berlin geboren, war zu dem Zeitpunkt bereits knapp 70 Jahre alt.3 1875 hatte er Gertrud Hinrichs in Zierke, Mecklenburg, geheiratet.4 Im Handbuch des Grundbesitzes im Deutschen Reich wird er 1885 als Lieutenant und Besitzer des 617 Hektar großen Gutes Zohlow erwähnt.5 Das Paar bekam drei Töchter und einen Sohn.6 Nach dem Verkauf des Gutes lag es für ihn sicher nahe, in seine Heimatstadt Berlin zurückzukehren, da er dort noch Verwandte gehabt haben mag.7
Warum Else Fretzdorff den Weg nach Weimar wählte, ist unbekannt. Dort schienen sich ihre Geschicke jedenfalls zunächst zum Guten zu wenden: Mit den Handarbeitskenntnissen, die sie nach eigenen Angaben insbesondere in den Wintermonaten auf dem Gut erworben hatte,8 konnte sie bereits ab Oktober 1918 kunstgewerbliche Kurse an der Vorgängerinstitution des Bauhauses besuchen. Im September 1919 erfolgte dann die offizielle Anmeldung für die „Weberei und Stickereiabteilung“ bei Helene Börner am Staatlichen Bauhaus. Gropius machte in ihrem Fall mit seinem Manifest ernst: „Aufgenommen wird jede unbescholtene Person ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, deren Vorbildung vom Meisterrat des Bauhauses als ausreichend erachtet wird, und soweit es der Raum zuläßt.“9 Auch Else Fretzdorffs Aufnahme befürwortete Gropius, ohne dass die damals schon über Vierzigjährige offizielle Zeugnisse oder eine weitere Vorbildung vorweisen konnte.

„Für Aufnahme – Gropius“, Zirkular für „Frl. Else Fretzdorff“, Weberei und Stickereiabteilung, 3.10.1919, Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatliches Bauhaus, Nr. 151, Bl. 324.

Sie muss mit ihren eingereichten Handarbeitssachen gute Kenntnisse aufgewiesen haben. In den offiziellen Listen der Webereiabteilung war sie in der Folge als Schülerin verzeichnet.10 Die Abmeldung erfolgte jedoch bereits nach einem Semester am 1. April 1920. Was sie im Bauhaus-Unterricht angefertigt hat, bleibt unklar. Sollte sie sich insbesondere für Stickerei interessiert haben, war dies eine Abteilung, die noch von der Vorgängerinstitution, der Großherzoglich Sächsischen Hochschule für Bildende Kunst, übernommen worden war und schnell aufgegeben wurde.
Trotz ihres Abgangs von der Schule blieb Fretzdorff noch einige Jahre in Weimar ansässig. Das Weimarer Adressbuch 1921/22 nannte sie als Kontoristin (d.h. Bürokraft), wohnhaft in der Amalienstraße 2.11 Dort befand sich seit 1904 das Martha-Marien-Heim, ein von der evangelischen Kirche Thüringen unterstütztes Wohnheim.13 Es bot „Heimat und Hospiz für Damen“:11 Zum einen konnten hier alleinstehenden Frauen längerfristig Obdach finden, zum anderen gab es jungen Frauen die Möglichkeit, sich im Haushalt ausbilden zu lassen.14 Gleichzeitig diente das Haus als Pension und Unterkunft, und wurde auch in englischsprachigen in Fremdenführern beworben.15 Einige Jahre später war Else Fretzdorff in den dritten Stock des angrenzenden Wohnhauses des Heims in der Luisenstraße, heute Humboldtstraße 5, gezogen.16
Ihr gesundheitlicher Zustand muss sich kontinuierlich verschlechtert haben. Die im Jahr 1928 beginnende Krankenakte im Bundesarchiv Berlin beschreibt eine Situation, in der sie im verwirrten Zustand auf dem Bahnhof Kreiensen aufgegriffen und mit der Diagnose Schizophrenie in die Heilanstalt Königslutter eingewiesen wurde.17 In einem eigenhändig notierten Bericht gab sie ihr Erleben wieder: „Wenn man Stimmen hört, hat man oft das Gefühl, auf einer Astralebene zu sein. […] Man weiß, wo man ist, aber doch in zwei Welten. […] Man muß teilweise mit oder auch gegen den Willen den Stimmen antworten, kann die Antworten denken oder sie mehr oder weniger laut vor sich hersagen.“18 Schon vorher, so die Krankenakte, lebte sie in Weimar von der Unterstützung des Wohlfahrtsamtes.19

1929 folgte ihre Überführung von Königslutter in die Landesheilanstalt Blankenhain in Thüringen, wo sie für mehr als 11 Jahre verblieb. Ihr Zustand scheint sich dort nicht wesentlich verändert zu haben. Regelmäßige Notizen in ihrer Krankenakte belegen Zustände zwischen Ruhe und Erregung, der höchstens medikamentös begegnet wurde: „Spricht meist unter der Bettdecke oder gestikuliert wild. Mitunter aggressiv. Oft hochgradig erregt trotz reichlicher Narkotika.“20

Nahe Angehörige hatte sie zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich keine mehr. Das Schicksal ihrer dritten Schwester ist bisher unbekannt. Ihre zweite Schwester, Irmgard Fretzdorff, am 3. Januar 1884 ebenfalls auf dem Rittergut Zohlow geboren, fungierte noch Ende der 1920er Jahre von Berlin aus als Elses Vormund. Sie wurde jedoch am 13. Januar 1930 im Kleinen Wannsee tot aufgefunden.21 Sie war unverheiratet und hatte ebenso wie ihre Schwester keine Kinder. Wer jeweils für die Unterbringung in den Anstalten für sie aufkam, ist unbekannt.
Die letzten beiden Einträge in der Akte vermerken zwei Daten im Jahr 1940: Zunächst wurde sie am 20. September in die Landesanstalt Zschadraß in Sachsen verlegt. Von da aus kam sie in die Tötungsanstalt Pirna/Sonnenstein, wo sie sehr wahrscheinlich schon am Tag ihres Transports am 27. November im Rahmen der T4-Aktion umgebracht wurde.22 Else Fretzdorff war schwer krank; heutzutage hätte sie würdig therapeutisch und medikamentös betreut werden können. Doch die menschenverachtende Kategorisierung als „minderwertig“ und „erbbiologisch belastet“ durch die nationalsozialistischen Machthaber und ihre Ideologie besiegelte 1940 ihre Ermordung als vermeintlich unwertes Leben.23

Text: Dr. Anke Blümm, Klassik Stiftung Weimar

Quelle:

Schülerakte Else Fretzdorff, 1918/1919, Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatliches Bauhaus, Nr. 151, Bl. 322–326, hier Bl. 325r/v.

Transkription:

Lebenslauf
Am 2 Januar 1877 bin ich in Zohlow, Kreis Weststernburg geboren. Meinem Vater gehörte das dortige Rittergut. Ich wurde von einer Erzieherin unterrichtet, war dann 1 ½ Jahr in dem benachbarten Frankfurt/O in Pension und besuchte die Woltersdorffsche Schule. Nach Hause zurückgekehrt, lernte ich den ländlichen Haushalt und beschäftigte mich, besonders in den Wintermonaten, mit Handarbeiten. Ich war viel kränklich und krank, hatte 1900 ein schweres Nervenfieber, war dann ¾ Jahr in Sanatorien. 1911 wurde unser Gut verkauft, wir übersiedelten nach Charlottenburg. 1915 lösten wir den dortigen Haushalt auf, mein Vater war im November 1914 gestorben. Durch schwere Familienereignisse – meine Mutter lebt seit 10 Jahren in einem Irrenhaus, mein einziger Bruder hatte sich 1912 erschossen – war ich mit meinen Nerven sehr herunter. 2 ½ Jahre lebte ich in Sanatorien, ¾ Jahr in Erholungsheimen. August 1918 kam ich nach Weimar, besuchte vom Oktober – Juli regelmäßig die Kunstgewerblichen Kurse.
Hochachtungsvoll Else Fretzdorff

Endnoten

1 Damals noch eigenständig, wurde Charlottenburg 1920 in Berlin eingemeindet.

2 Else Fretzdorff an das Staatliche Bauhaus, Okt. 1919, Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatliches Bauhaus, Nr. 151, Bl. 325r/v.

3 Kirchenbuch, ev. Petrikirche Berlin, 1844.

4 Kirchenbuch, ev. Kirche Neustrelitz (Mecklenburg-Strelitz), 1875.

5 Ellerholz, Paul: Provinz Brandenburg. Handbuch des Grundbesitzes im Deutschen Reiche, Berlin 1885, S. 203.

6 Vgl. Bestattungseintrag aus der Kirchengemeinde Am Lietzensee in Berlin-Charlottenburg, 1914. Die Kirchenbücher Drenzig, zuständig für Zohlow, Kreis Weststernberg/Brandenburg, haben sich nicht erhalten. Frdl. Mitteilung des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin, 30.7.2021.

7 Das Adressbuch Berlin vermeldet um 1910 diverse Fretzdorffs.

8 Else Fretzdorff an das Staatliche Bauhaus, Okt. 1919, Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatliches Bauhaus, Nr. 151, Bl. 325v.

9 Walter Gropius, Bauhaus-Manifest, April 1919, Klassik Stiftung Weimar.

10 Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Staatliches Bauhaus Weimar, Nr. 138, Namensliste Weberei, Bl. 280.

11 Adressbuch Weimar, 1921/22.

12 Adressbuch Weimar, 1929: „Martha-Marien-Heim e.V., milde Stiftung im Besitz der Inneren Mission für Thüringen.“

13 Reise-Handbuch für die christliche Familie. Ein Wegweiser durch die Hospize, Pensionen, Erholungsorte, Berlin 1909, S. 71.

14 Vgl. Günther, Gitta (Hg.): Weimar. Lexikon zur Stadtgeschichte. [2., verb. Aufl.]. Weimar 1998, S. 77.

15 Vgl. Karl Baedeker (Hg.): Northern Germany as far as the Bavarian and Austrian frontiers. Handbook for travellers. Leipzig 1925 (Baedeker’s guide books), S. 245; Council, National Lutheran (Hg.): The Lutheran World Almanac and Encyclopedia. New York 1931, S. 27; Stadtarchiv Weimar, Fremdenwohnsteuer für Fremdenheime, Martha-Marien-Heim, 1920-1924, Sign. 9-94-7, Nr. 12.

16 Adressbuch Weimar, 1929.

17 Augenzeugenbericht von Max Gutsche, 12.7.1928, Bundesarchiv Berlin (BArch), R 179/13727, Else Fretzdorff (fälschlicherweise: Elsbeth), Bl. 3.

18 Eigenhändige Schrift Else Fretzdorff und Abschrift, BArch, R 179/13727, Bl. 13.

19 Schreiben des Vormunds H. Dorn, 8.9.1928, BArch, R 179/13727, Bl. 3, ebenso die Karteikarte, Bl. 2.

20 Handschriftl. Bemerkung, April 1938, BArch, R 179/13727, o. Pg.

21 Irmgard Fretzdorff, gest. 13.1.1930, Landesarchiv Berlin, Sterberegister, Nr. 84.

22 Dokumentationszentrum Gedenkstätte Pirna/Sonnenstein.

23 Karteikarte, 10.4.1937, BArch, R 179/13727, Bl. 1.