Prag und Weimar, Leben und Tod

Familie Eisenbruch

Ernst-Thälmann-Straße 41

Ruth und Otto Eisenbruch in Prag (© Sammlung Eisenbruch)

Mit der Hoffnung auf ein gutes Leben kommt Otto Eisenbruch mit seinen Eltern 1919 aus Prag nach Weimar.
17 Jahre später liegt das gute Leben in Scherben. Die Eisenbruchs stehen vor einer folgenschweren Entscheidung: Gehen oder bleiben?
Familie Eisenbruch zerreißt diese Entscheidung: Otto, seine Eltern und seine Tochter Ruth gehen nach Prag; seine Frau Gertrud und sein Sohn Heinz bleiben in Weimar. Die familiäre Trennung soll nur vorübergehend sein, doch werden die Eisenbruchs sie nicht mehr rückgängig machen können.

Im Juli 1942 kehrt Otto Eisenbruch nach Thüringen zurück, die Angst vor dem Tod begleitet ihn nach Buchenwald. Von dort schreibt er seinem inzwischen siebzehnjährigen Sohn Heinz eine Postkarte. Sechs Jahre haben sie sich nicht mehr gesehen, obwohl sie seit einiger Zeit nur wenige Kilometer trennen. Otto schreibt Heinz in knappen, dringlichen Sätzen: Er solle ihm „unbedingt sofort … derbe Holzsandalen und … derbe Arbeitsschuhe Gr. 43“ schicken. Auch um Rasierklingen, ein Taschenmesser „mit großer Klinge“, Puder, Creme und Taschentücher bittet er. Heinz könne dem Opa Bescheid geben, der ihm dann das Geld dafür schicke.

Otto Eisenbruch schreibt seinem Sohn aus dem KZ Buchenwald (© Sammlung Eisenbruch)
© Sammlung Eisenbruch

Ob Heinz Eisenbruch der Bitte nachkam und das Paket seinen Vater noch erreichte, wissen wir nicht. Otto stirbt am 18. Juli 1942, zwei Wochen nach seiner Bitte um derbe Arbeitsschuhe, im Häftlingskrankenbau des Konzentrationslagers Buchenwald an „akuter Herzschwäche“. Oft ist die Todesursache „akute Herzschwäche“ Folge völliger Erschöpfung oder einer Giftinjektion, die der SS-Lagerarzt verabreichte.

Der Opa, den Heinz hätte kontaktieren sollen, wurde schon im Mai ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert: Emanuel Eisenbruch stirbt dort noch im selben Sommer wie sein Sohn Otto. Die Spur der fünfzehnjährigen Ruth Eisenbruch, Heinz’ Schwester, verliert sich im Vernichtungslager Sobibor. Die Großmutter Regina starb schon im April 1938 in Prag an einem Hämatom im Gehirn.
Die Nazizeit überleben von der Weimarer Familie Eisenbruch nur Heinz und seine Mutter. Alle anderen Familienmitglieder wurden wegen ihrer jüdischen Religionszugehörigkeit bis in den Tod verfolgt.

Ein neues Leben in Weimar

Im Adressbuch von 1920 ist zu sehen, dass die Eisenbruchs ihre Handlung noch in der Ettersburger Straße, wo sie auch wohnen, haben.

Zu Weimarern werden die Eisenbruchs 1919, als der 49-jährige Emanuel, seine Frau Regina und ihr erwachsener Sohn Otto sich in der Stadt an der Ilm niederlassen. Das gute Leben scheint zunächst greifbar: Sie beziehen eine Wohnung in der Ettersburger Straße 411 (die heutige Ernst-Thälmann-Straße) und werden 1920 eingebürgert. Die Ilm hilft ihnen, sich hier eine Existenz aufzubauen: Sie eröffnen ein Fischgeschäft, zunächst bei sich in der Ettersburger Straße , später übernehmen sie ein Geschäft in der Gerberstraße 11, dessen Grundstück an den Fluß grenzt. Im Weimarer Adressbuch von 1924 schalten sie eine kleine Anzeige: „Huth’s Nachfolger, Inh. Emanuel Eisenbruch – Fluß- und Seefischhandlung, Fischbraterei und Räucherei“. Noch heute sind im Wasser die Reste ihrer Fischbassins für Aale und Karpfen zu erkennen. Dem Geschäft ist auch ein Wochenstand auf dem Weimarer Markt angegliedert.

Adressbuch 1924: Die Fischhandlung der Eisenbruchs zieht in die Gerberstraße 11, direkt am Fluss gelegen.
Otto und Gertrud Eisenbruch heiraten evangelisch in der Weimarer Stadtkirche (© Sammlung Eisenbruch)

Die Eisenbruchs leben sich ein, im Juli 1924 heiratet Otto Gertrud Klein, die fortan im Fischgeschäft der Eisenbruchs als Verkäuferin mitarbeitet. Einige Monate nach der Hochzeit, im Februar 1925, bekommen sie den Sohn Heinz Gerd; im Sommer 1927 folgt die Tochter Ruth. Der Nachzüglerin Jutta, die 1930 geboren wurde, ist nicht viel Zeit vergönnt, sie stirbt noch als Kleinkind an Diphterie. Gertrud nimmt die Religion ihres Mannes nicht an, zumindest von ihrem Sohn Heinz ist bekannt, dass sie ihn in der Stadtkirche evangelisch taufen lassen.

Die Familie ist kontaktfreudig und am gesellschaftlichen Leben interessiert: Regina Eisenbruch erhält 1932 für ihre ehrenamtliche Arbeit im „Patriotischen Institut der Frauenvereine vom Roten Kreuz“, einem Wohlfahrtsverein, die silberne Ehrenbrosche.
Darüber hinaus bringen sie und ihr Mann Emanuel sich auf religiösem Gebiet ins Stadtgeschehen ein und sind Mitglieder des Israelitischen Religionsvereins.2
Währenddessen bezieht Otto Eisenbruch politisch Position und tritt der SPD wie auch dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold bei, einem der SPD nahestehenden Wehrverband, dem hauptsächlich Kriegsveteranen angehören. Das Reichsbanner verschreibt sich der Verteidigung der Demokratie und wird 1933 verboten, prominente Mitglieder werden verfolgt und in Konzentrationslager verschleppt, flüchten ins Ausland oder organisieren sich im Widerstand.
Otto Eisenbruch wird seine politische Orientierung auch unter den Nazis beibehalten, im Konzentrationslager Buchenwald ist er als „politischer Jude“ geführt. Die Gestapo Prag gibt als Verhaftungsgrund an: „Versuchte Herabsetzung der Autorität der Behörde“.

Quelle: Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Buchenwald, Otto Eisenbruch, Signatur 01010503 oS ITS Digital Archive, Arolsen Archives

Boykott, Ausbürgerung und Flucht

Während der Kanzler Hitler und seine NSDAP eine Demokratie in eine Diktatur umbauen,3 wird der von den Nazis geförderte und eingeforderte Antisemitismus immer enthemmter ausgelebt. Die gesellschaftliche Stimmung wirkt auf jene, die mit jedem neu erlassenen Gesetz stärker zu Außenseitern gemacht werden, immer bedrohlicher. Der reichsweite, von der SA organisierte Boykott jüdischer Geschäfte Anfang April 1933 trifft auch die Eisenbruchs: Am Verkaufsstand auf dem Wochenmarkt finden sich kaum Kunden ein,4 vor dem Geschäft bauen sich SA-Leute auf, die „mit Schildern an Holzstangen befestigt […] ‚Posten‘ standen“. Heinz Eisenbruch erinnert sich:

„Der Sturmriemen der Mützen war heruntergezogen, die Breitbeinigkeit und die Bulligkeit der Gesichter sollte abschreckend auf eventl. Käufer wirken. Ich erinnere mich weiterhin, daß auf einem der Schilder stand: ‚Hier wohnt ein Jude, kauft nicht bei ihm.‘ Eine Nazifamilie mit dem Goldenen Parteiabzeichen, die dem Geschäft gegenüber wohnte, war bei diesem Boykott außer sich vor Freude. Die Gesichter zeigten mir, und ich ahnte es, trotz meiner acht Lebensjahre, daß es sehr ernst würde.“5

Die Eisenbruchs leben seit 15 Jahren in Weimar, als ihnen – mit Ausnahme von Gertrud – im August 1934 die Staatsbürgerschaft aberkannt wird. Sie sind nunmehr staatenlos6 – eine äußerst riskante Situation, weil ihnen damit schützende Rechte entzogen sind. Im „Dritten Reich“ werden Ausbürgerungen vor allem genutzt, um sich des Vermögens der Ausgebürgerten zu bemächtigen.7
Auch Ottos Kinder, der neunjährige Heinz und die siebenjährige Ruth, sind betroffen. Die Eisenbruchs ahnen, was Hannah Arendt8 in ihrem Essay Wir Flüchtlinge 1943 auf den Punkt bringt: „[…] Pässe oder Geburtsurkunden, und manchmal sogar Einkommenssteuererklärungen, sind keine formellen Unterlagen mehr, sondern zu einer Angelegenheit der sozialen Unterscheidung geworden.“ Erst Unterscheidung ermöglicht Diskriminierung, und Diskriminierung ist, wie Arendt feststellt, „das soziale Mordinstrument […], mit dem man Menschen ohne Blutvergießen umbringen kann.“

Gertrud Eisenbruch geht gegen die Aberkennung der Staatsangehörigkeit vor und reicht eine Bitte beim Thüringer Ministerium des Innern ein. Am 12. September 1934 erreicht sie ein Brief aus dem Innenministerium, der in aller Kürze feststellt:

„Nach § 1 Abs. 2 des Gesetzes über den Wiederruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli 1933 verlieren durch den Wiederruf ausser dem Eingebürgerten selbst auch die Personen die deutsche Staatsangehörigkeit, die sie ohne die Einbürgerung nicht erworben hätten. Das trifft auf ihre beiden Kinder Gerd und Ruth zu. Die gesetzliche Bestimmung ist zwingend. Ich bin nicht berechtigt, eine Ausnahme zuzulassen. Ihrer Bitte kann ich daher nicht entsprechen. J.A.“9

Die bedrohliche Situation spitzt sich zu, als Otto als ehemaliges Mitglied der inzwischen verbotenen SPD wiederholt von der Gestapo vorgeladen wird.10
Früher als die meisten anderen Weimarer jüdischen Familien erkennen die Eisenbruchs, dass sie in Nazideutschland keine Zukunft haben: Emanuel Eisenbruch verkauft am 20. Februar 1936 das Grundstück an der Ilm, dann gehen er, Regina und Otto nach Prag. Auch Ottos und Gertruds Tochter Ruth nehmen sie mit. Gertrud berichtet später, wie schwer dieser Schritt war, denn er ging mit einer ersten – räumlichen – Trennung der Familienmitglieder einher:

„[M]ein Mann entschloss sich, mit der ganzen Familie nach Prag auszusiedeln. Da zu unserer Familie meine Schwiegereltern, mein Mann, ich und unsere beiden Kinder gehörten, und wir nur RM 10,– in die Ungewissheit mitnehmen durften, bat ich meinen Mann mit meinen Schwiegereltern vorauszureisen und würde mit den beiden Kindern nachkommen, wenn er wieder eine kleine Existenz aufgebaut hat. Mein Mann konnte sich aber von unserer Tochter Ruth nicht trennen und bat mich, wenigstens sie mitzunehmen, während ich mit dem Jungen in Weimar zurückblieb.“11

Diese Trennung und die damit verbundene Lebensgefahr für ihre Tochter versucht Gertrud in den folgenden Jahren wieder und wieder erfolglos zu überwinden.

Die Zuflucht wird zur Falle

Prag ist ein Zufluchtsort, der zunächst Gutes verheißt: Die Tschechoslowakei ist zu dieser Zeit nicht nur die letzte verbliebene Demokratie Mitteleuropas,12 sondern auch einer der wirtschaftlich stärksten Industriestaaten Europas.13 Von den anderen Staaten Mitteleuropas unterscheidet sie zudem, dass sie Juden als nationale Minderheit anerkennt und ihnen entsprechende Rechte zubilligt.14 Flüchtlingen aus Deutschland wird schon seit 1933 vergleichsweise großzügig Aufnahme gewährt. So berichtet die deutsche Botschaft in Prag im August 1933:

„Von Seiten der Tschechoslowakischen Regierung werden deutsche Emigranten bisher mit ausgesprochenem Wohlwollen behandelt. Die hiesige tschechische und deutsche Sozialdemokratische Partei, die ja beide in der Regierung vertreten sind, ebnen der Emigration alle Wege und sorgen für eine large Auslegung des Asylrechts. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, dass hinter den Kulissen auch die Präsidentschaftskanzlei und Außenminister Benes ihre Hände segnend über die deutsche Emigration halten.“15

Freilich finden sich unter den Einheimischen auch Gegner einer asylfreundlichen Haltung, sie bedienen sich – heute noch immer wohlbekannter – suggestiver Sprachbilder. So schreibt die konservative Zeitung Vecer:

„Die Flut von Ausländern, die uns kein Geld bringen, sondern die hohle Hand hinhalten, wächst. Asyl ist ein schönes Wort. Asyl kann man ohne Zögern unter normalen Umständen gewähren. Heute müssen aber auch wir das Gebot berücksichtigen, dass uns die Haut näher ist als das Hemd.“16

Diese Utopie der „normalen“ Umstände, unter denen Menschenfreundlichkeit nichts „kostet“, – wird sie jemals real sein?

In Prag findet die Familie Eisenbruch im am südlichen Stadtrand gelegenen Bezirk XII eine Unterkunft. Heinz erinnert sich: „Mein Vater hatte anfangs Schwierigkeiten mit den Behörden, weil er staatenlos war. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit durfte er in die Tschechoslowakei einreisen und dort seinen Aufenthalt nehmen.“17

Dennoch können sich viele der vor allem politisch links orientierten deutschen Flüchtlinge nicht selbst erhalten. Sie werden unterstützt von den deutschen Exilparteien und den tschechoslowakischen Bruderparteien. Diese rufen Unterstützungskomitees ins Leben, die auch von der Prager Regierung bezuschußt werden.

Über die wirtschaftliche Situation der Eisenbruchs in Prag ist nur wenig bekannt. Emanuel und Regina Eisenbruch führen ein Fellwaren-Geschäft, Otto hilft aus, hat selbst aber keine Arbeitserlaubnis. Gertrud Eisenbruch berichtet später, ihrem Mann sei es „nicht gelungen, sich eine Existenz zu schaffen“.18 Auch sie selbst hat Schwierigkeiten, sich und Heinz finanziell über Wasser zu halten: „[Ich] wußte […] nicht, wie ich meinen Sohn und mich erhalten sollte, weil mich niemand als Judenfrau beschäftigen wollte.“19 Eine Zeitlang arbeitet sie in Heimarbeit für einen Lampenschirmhersteller,20 auch ihr Sohn hilft neben der Schule mit. Noch im Jahr der Flucht ihrer Familie bemüht sie sich um eine Ausbildung als Samariterin, doch wird sie ihr des „Arierparagraphen“21 wegen vom Weimarer Ableger des Landesfrauenvereins Thüringen verwehrt. Ein Jahr später folgt eine erneute Absage von derselben Stelle: Der Brief untersagt ihr auch die gewünschte Ausbildung beim Roten Kreuz.

Gertrud Eisenbruch arbeitete noch bis ins hohe Alter als Krankenschwester. (© Sammlung Eisenbruch)

Einsame Kämpfe ums Überleben

Der räumlichen Trennung von ihrem Mann folgt im April 1937 die Scheidung. Den aggressiven Antisemitismus des „Dritten Reichs“ vor Augen, glauben Otto und Gertrud Eisenbruch, durch eine Scheidung des „arischen“ vom „nichtarischen“ Elternteil bliebe „den Kindern manches erspart“.22
Heinz Eisenbruch erinnert sich: „Aufgrund der massiven rassi[sti]schen und politischen Verhältnisse wurde nach langem Hin und Her die Ehe geschieden. Im Rückblick auf die damalige Situation kann ich nur sagen, daß meine Mutter richtig gehandelt hatte.“23
Doch selbst nach der Scheidung gilt Gertrud durch die gemeinsamen Kinder mit Otto als „jüdisch versippte“ Frau. Um für sich und ihr Kind sorgen zu können, vermietet sie alle Zimmer ihrer Wohnung und wendet sich schließlich für eine Ausbildung an das Erfurter Rote Kreuz. Dort verschweigt sie die Verbindung zu ihrem jüdischen Ex-Mann und wird aufgenommen. Als man ihren Trick entdeckt und sie im Juli 1939 mit sofortiger Wirkung aus dem Roten Kreuz entlässt, hat sie ihre Ausbildung schon abgeschlossen und darf dank der Unterstützung eines Arztes und einer Schwester fortan als Nachtschwester in der Chirurgischen Klinik in Weimar arbeiten.

1938 heiratet Otto Eisenbruch seine zweite Frau, die um anderthalb Jahre jüngere Gertruda, geborene Eisenschimml. Auch sie stammt aus Prag und ist Jüdin. Otto und Gertruda bleiben nur vier gemeinsame Jahre: Die international gebilligte Annexion des Sudetengebietes durch deutsche Truppen im Herbst 1938 ist nur der Beginn der Zerschlagung der Tschechoslowakischen Republik durch die höchst aggressive NS-Außenpolitik. Fast eine halbe Million Tschechen verlassen daraufhin ihr nunmehr „deutsches“ Zuhause, die im Osten der Tschechoslowakei massiv ausgebauten Verteidigungsanlagen gehören fortan dem Deutschen Reich.

Auch wenn sich Frankreich, Großbritannien und die östlichen Nachbarn des Deutschen Reichs das erhoffen: Hitler gibt sich nicht zufrieden mit dem Sudetenland. Noch im Oktober 1938 befiehlt er den Generälen der Wehrmacht, sich für eine Besetzung der restlichen tschechischen Gebiete bereitzuhalten.

Nachdem die Slowakei sich am 14. März 1939 unter dem Druck Hitlers zum selbstständigen Staat erklärt (und Vasall des deutschen Reichs wird), erpresst Hitler unter Androhung von Bombardements auf Prag vom bisher tschechoslowakischen Staatspräsidenten Hacha und Außenminister Chvalkovsky die Unterschrift unter einen „Protektoratsvertrag“.24

Berlin: Der tschechoslowakische Staatspräsident Hacha (2.v.l.) trifft am 14./15. März in der Reichskanzlei auf Hitler (Bundesarchiv B 145 Bild-F051623-0206)

Einen Tag später, am 15. März, marschieren deutsche Soldaten in Prag ein. Das Deutsche Reich annektiert nun auch den Rest der Tschechei und formt aus ihm das „Protektorat Böhmen und Mähren“ – einen abhängigen Satellitenstaat. Frankreich und Großbritannien protestieren, schreiten jedoch nicht ein, um einen Krieg zu vermeiden.
Die Verfolgung von Oppositionellen und Juden setzt sofort ein.25

Gertrud berichtet später: „Ich bemühte mich unablässig, meine Tochter […] zu mir nach Weimar herüber zu holen, weil ich wußte, dass sie in der Nähe ihres jüdischen Vaters in ständiger Lebensgefahr schwebt.“26
Ihr Sohn Heinz erinnert sich an ihre Bemühungen als einen „ewigen Kampf […] mit den Polizeibehörden“. Er schreibt:

„[Dies] führte dazu, daß die Gestapo alles einleiten wollte, wenn meine Mutter mit mir nach Prag übersiedeln würde. Auf diese Falle ist sie nicht eingegangen. Jedoch wurde uns besuchsweise eine 14tägige Einreise nach Prag erlaubt. Dort wurde mit Behörden, Vormundschaftsgericht u.a. verhandelt, um die Ausreise bzw. Fürsorge zu bekommen. Die familiere [sic] Lage war schwierig. […] Die Gestapo in Weimar hat die gewollte Übersiedlung meiner Schwester zunichte gemacht.“27

Das deutsche Amtsgericht in Prag weist Gertruds Antrag auf „Übergabe“ ihrer Tochter „in mütterliche Pflege und Erziehung“ Anfang Dezember 1941 ab – Gertrud geht in Rekurs, dem Anfang März 1942 vom deutschen Landgericht in Prag „mit Rücksicht auf die Stellungnahme der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Weimar vom 2.12.41“ nicht stattgegeben wird. Die Gestapo Weimar schreibt, Ruths „Zuzug ins Altreich“ sei unerwünscht.28

Damit hat Ruth nicht nur beide Eltern verloren, sondern auch jede Hoffnung auf Schutz: Ihr Vater Otto ist zu diesem Zeitpunkt schon seit anderthalb Jahren in Konzentrationslagern inhaftiert – zunächst in Sachsenhausen, dann in Dachau, ab Sommer 1941 in Buchenwald.29 Mit ihrem 72-jährigen Opa Emanuel und ihrer Stiefmutter Gertruda lebt Ruth noch zwei Monate in der Prager Radegaststraße 1, dann werden alle drei nach Theresienstadt deportiert. Für Ruth und Gertruda ist Theresienstadt nur eine kurze Durchgangsstation auf dem Weg ins Vernichtungslager Sobibor, wo sich ihre Spur verliert. Emanuel Eisenbruch bleibt in Theresienstadt. Er überlebt seinen Sohn Otto, der in Buchenwald schuftet, um sieben Wochen, und stirbt am 6. September 1942.

Quelle: Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Buchenwald, Otto Eisenbruch, Signatur 01010503 oS ITS Digital Archive, Arolsen Archives

Vergebliche Bemühungen um Anerkennung

Gertrud Eisenbruch 1962 (© Sammlung Eisenbruch)

Die Unterlagen, die in den Archiven einzusehen sind, vermitteln das Bild einer willensstarken und mutigen Frau: Gertrud Eisenbruch nimmt nicht hin, dass ihre Kinder staatenlos werden – sie legt Widerspruch ein. Ebenso legt sie Beschwerde ein, als sie aus dem Roten Kreuz entlassen wird. Sie zieht bis nach Prag vors Gericht, um die Pflegschaft ihrer Tochter zu bekommen und das Kind zu sich, wo sie es aus guten Gründen sicherer glaubte, zu holen. Auch beantragt sie für ihren staatenlosen Sohn die Protektoratsangehörigkeit, die ihm zumindest mindere Rechte verleihen würde.

All diese Kämpfe verliert sie, und alle Kämpfe hinterlassen Spuren. Doch sie schafft es, das „tausendjährige Dritte Reich“ zu überleben und ihren Sohn Heinz lange und trotz jährlicher Gestapo-Vorladungen zwecks Prüfung seines Aufenthaltsstatus’ vor dem Zugriff der Nazis zu schützen.

© Sammlung Eisenbruch
Heinz Eisenbruchs Aufenthaltserlaubnis musste jährlich bei der Gestapo erneuert werden. (© Sammlung Eisenbruch)

Heinz Eisenbruch wird im Zuge der „Mischlingsaktion“ im Herbst 1944 zusammen mit mehreren anderen Weimarern 30 von der Gestapo vorgeladen, sich am 16. Oktober am Marstall „zwecks Einsatz bei der OT“ einzufinden. Die „OT“, die Organisation Todt, ist eine paramilitärische Bauorganisation, die ab 1943 auch Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene beim Bau von militärisch wichtigen Anlagen wie den „Atlantikwall“31 und die Führerhauptquartiere „Werwolf“ und „Wolfsschanze“32 beschäftigt. Heinz Eisenbruch berichtet später:

„Am 16.10.1944 hatte ich mich bei der Gestapo zu melden. Dort stellte ich dann fest, daß ‘Mischlinge’ und ‘Versippte’ zum Einsatz bei der OT aus verschiedenen Teilen Thüringens zusammengezogen waren. Etwa hundert Mann der verschiedensten Altersstufen wurden in Begleitung ziviler Polizeikräfte zum Bahnhof gebracht. Von hier wurden alle in 2 Personenwagen mit der Aufschrift ‘Nur für Kriegsgefangene’ nach Weißenfels transportiert. Dort wurden wir in einer großen Kaserne, belegt mit Ausländern [d.h. ausländischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern] und OT-Angehörigen [der Bautruppe der Wehrmacht], untergebracht. Von hier aus ging es täglich zu früher Stunde mit bewaffneten OT-Leuten zum Bahnhof und zur Fahrt nach Leuna-Nord zum Bunkerbau. Von dieser Zeit an wurde der dauernde Wechsel der Einsatzstellen, wie Leuna, Merseburg, Halle-Bruckdorf u.a. mit immer anderen Lagerunterkünften zu unserer Qual.“33

© Sammlung Eisenbruch

Bei knapper Verpflegung müssen sie körperlich schwere Arbeit leisten. Heinz Eisenbruch gelingt Anfang 1945 die Flucht aus dem OT-Lager. Seine Tante Lucie Schmidt versteckt ihn in Oberweimar, bis die Amerikaner in der Stadt sind. Auch den Weimarern Rolf Fleisch, Hans Thate und Hans-Joachim Preiß gelang kurz vor Kriegsende ein Fluchtversuch aus Halle-Bruckdorf, ermutigt durch das stete Vorrücken der alliierten Truppen.

Heinz Eisenbruch, 1946 (© Sammlung Eisenbruch)

Heinz Eisenbruch überlebt, und er wird seine Schwester Ruth 1948 vom Weimarer Amtsgericht für tot erklären müssen.

Seine Mutter Gertrud Eisenbruch stellt in den fünfziger Jahren einen „Antrag auf Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes“, mit dessen Bewilligung eine vergleichsweise großzügige „Ehrenpension“ und weitere Privilegien34 verbunden sind. Ihrem Antrag wird zunächst stattgegeben, dann aber wird die Anerkennung aus zwei Gründen – wie sie selbst schreibt – wieder aberkannt: Zum Einen sei sie selbst nicht in einem Zuchthaus, Gefängnis oder Konzentrationslager inhaftiert gewesen, zum Anderen habe sie sich von ihrem Mann scheiden lassen.
Es passt zum Bild, das die Akte von ihr zeichnet, dass Gertrud Eisenbruch sich mit dieser Entscheidung nicht zufriedengibt. Sie bittet 1963 in einem Brief an „Genossin Ulbricht“ um die nochmalige Prüfung ihres Falls. Sie schreibt darin:

„Wenn man mich schon als Verfolgte des Faschismus nicht anerkennt, was ich immer noch nach all den Repressalien, denen ich ständig über viele Jahre hindurch ausgesetzt war, nicht ganz einsehen kann, so läßt sich doch nicht von der Hand weisen, dass meine liebliche [sic! es ist wohl „leibliche“ gemeint] Tochter Ruth umgekommen ist. Mein liebliches Kind also, um das ich selbst unter Gefahren kämpfte, es den Klauen der Faschisten zu entreissen, ist tot, und wird nie wieder lebendig. Meine Tochter Ruth wäre, würde sie noch am Leben sein, heute 38 Jahre alt und für mich, die ich heute als 70jährige noch als Krankenschwester berufstätig bin, eine große Stütze […]“.35

Doch erfüllt ihr Fall nicht die Richtlinien für die Anerkennung als „Verfolgte des Naziregimes“. Ihr Antrag wird erneut abgelehnt.
Sie stirbt am 24. August 1971 in Oberweimar.

Text: svdf

1 Heinz Eisenbruch erinnert sich an dieses Geschäft: „[…] in der Ettersburger Straße an einem freien Feld, angrenzend an das damalige Landgericht. Die Verkaufseinrichtung war ein größerer und fester Kiosk mit Unterkellerung.“ (Müller/Stein: Familien, S. 84)

2 Dieser Verein, zu Beginn des Jahrhunderts u.a. von Rudolf Sachs, Israel Berlowitz und Moritz Marchand gegründet, will den Religionsunterricht der Kinder absichern und mietet zu den Hohen Feiertagen einen Saal an, um sie angemessen begehen zu können. Emanuel und Regina Eisenbruch sind aktive Mitglieder, und wie alle jüdischen Einwohner Weimars gehören sie dem liberalen Judentum an.

3 Vgl. https://www.annefrank.org/de/anne-frank/vertiefung/deutschland-1933-von-der-demokratie-zur-diktatur/

4 Vgl. Müller/Stein: Familien S. 85

5 Vortrag von Heinz Eisenbruch für das VI. Kolloquium zum antifaschistischen Widerstandskampf 1933-1945 in Berlin, Sammlung Eisenbruch

6 Nach § 1 des „Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit“ vom 14. Juli 1933 „[können] Einbürgerungen, die in der Zeit zwischen dem 9. November 1918 und dem 30. Januar 1933 vorgenommen worden sind, […] widerrufen werden, falls die Einbürgerung nicht als erwünscht anzusehen ist. Durch den Widerruf verlieren außer dem Eingebürgerten selbst auch diejenigen Personen die deutsche Staatsangehörigkeit, die sie ohne die Einbürgerung nicht erworben hätten.“
Vgl. http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/tg/article/viewArticle/471/510#1

7 Vgl. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/wirtschaft/arisierung/

8 Hannah Arendt, eine jüdische Publizistin politisch-philosophischer Werke, wurde 1933 kurzzeitig von der Gestapo inhaftiert und emigrierte danach nach Frankreich, später in die USA. 1937 wurde sie ebenfalls zur Staatenlosen gemacht, erst 1951 erhielt sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.

9 LATh-HStAW, VdN 544, Bl. 3

10 Müller/Stein: Familien, S. 85

11 LATh-HStAW, VdN 544, Bl. 13 ff.

12 Vgl. https://www.herder-institut.de/blog/2018/05/23/boehmen-tschechoslowakei-tschechien-jahrestage-2018/ und https://www.radio.cz/de/rubrik/tagesecho/vor-67-jahren-verschwand-die-tschechoslowakei-von-der-landkarte-europas

13 http://www.buergerimstaat.de/3_97/bis973i.htm

14 https://www.radio.cz/de/rubrik/geschichte/die-juedische-minderheit-in-den-1930er-jahren

15 https://www.radio.cz/de/rubrik/geschichte/die-deutsche-emigration-in-prag-1933-1939

16 Ebenda.

17 Müller/Stein: Familien, S. 86

18 LATh-HStAW, VdN 544, Bl.13

19 LATh-HStAW, VdN 544, Bl. 1 f.

20 Müller/Stein: Familien, S. 86

21 Am 7.4.1933 wurde das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen. Dessen dritter Paragraph wird als „Arierparagraph“ bezeichnet, er definiert den Begriff „Nichtarier“ und untersagt die Beschäftigung von „Nichtariern“ im öffentlichen Bereich. Nahezu alle Verbände und Organisationen übernahmen diese Regelung. Auch alle, die mit einer Person „nicht-arischer“ Herkunft verheiratet waren, waren betroffen. In Weimar wurde z.B. Paul Ortlepp, der an der Landesbibliothek (heute: Anna-Amalia-Bibliothek) beschäftigt war, mit 59 Jahren in den Zwangsruhestand versetzt. Vgl. http://www.documentarchiv.de/ns/1933/berufsbeamtentum_vo01.html

22 LATh-HStAW, VdN 544, Bl. 1 f.

23 Müller/Stein: Familien, S. 86

24 Vgl. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/aussenpolitik/zerschlagung-der-rest-tschechei-1939.html

25 Vgl. http://www.wildevertreibung.de/Inhalt-der-Ausstellung-/Die-deutsche-Besetzung-der-Tsc/body_die-deutsche-besetzung-der-tschechoslowakei-.html

26 LATh-HStAW, VdN 544, Bl. 1

27 Müller/Stein: Familien, S. 87

28 LATh-HStAW, VdN 544, Bl. 9

29 Vgl. https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de?id=1004677

30 Darunter auch Rolf Fleisch, Artur Greulich, Hans Thate und Max Ortweiler. Zugleich werden Weimarer Frauen und Mädchen zur Arbeit auf dem Weimarer Hauptfriedhof und in der Leichenhalle gezwungen, wie Alexandra Greulich – Tochter von Rosa Schmidt – später berichtet.

31 Der Atlantikwall war eine Verteidigungslinie, die 1944 von den südfranzösischen Pyrenäen bis hinauf nach Dänemark und ganz Norwegen an der Atlantikküste verlief. Die heute noch teils intakten Bunkeranlagen z. B. an der französischen Küste sind Überreste des Walls.

32 „Werwolf“ liegt in der Ukraine, „Wolfsschanze“ in Polen. Die Führerhauptquartiere dienten als frontnahe militärische Befehlsstellen Hitlers.

33 Stein/Müller: Familien, S. 187 f.

34 Darunter fallen beispielsweise Vergünstigungen bei der Wohnungsbeschaffung, der Gesundheitsvorsorge, die kostenlose Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder erhöhte Chancen auf Stipendien, sollten ihre Kinder studieren wollen. Vgl. https://taz.de/!1746331/ 

35 LATh-HStAW, VdN 544, Bl. 1 f.

Quellen:

Erika Müller, Harry Stein: Jüdische Familien in Weimar, Stadtmuseum Weimar 1998

Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, VdN 544

Vortrag von Heinz Eisenbruch für das VI. Kolloquium zum antifaschistischen Widerstandskampf 1933-1945 in Berlin, Sammlung Eisenbruch

Gespräch mit Detlef Eisenbruch

Stefan Schilonka: Familie Eisenbruch, in: Stolpersteine – Bausteine deutscher Erinnerungskultur, Seminarfacharbeit 2018, Schillergymnasium Weimar

Hannah Arendt: We refugees, in: Menorah Journal 1943; dt.: Wir Flüchtlinge, Reclam 2018

https://collections.arolsen-archives.org/search/people/4972750/?p=1&s=Otto%20Eisenbruch&s_lastName=asc (10.12.2019)

https://collections.arolsen-archives.org/search/people/4972751/?p=1&s=Ruth%20Eisenbruch&s_lastName=asc (10.12.2019)

https://collections.arolsen-archives.org/search/people/4972749/?p=1&s=Gertrud%20Eisenbruch&s_lastName=asc (10.12.2019)

https://collections.arolsen-archives.org/search/people/4972748/?p=1&s=Emanuel%20Eisenbruch&s_lastName=asc (10.12.2019)

https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/directory.html.de?id=1004677 (10.12.2019)

http://www.wildevertreibung.de/Inhalt-der-Ausstellung-/Die-deutsche-Besetzung-der-Tsc/body_die-deutsche-besetzung-der-tschechoslowakei-.html (10.12.2019)

https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/aussenpolitik/zerschlagung-der-rest-tschechei-1939.html (10.12.2019)

https://www.radio.cz/de/rubrik/geschichte/die-deutsche-emigration-in-prag-1933-1939 (10.12.2019)

https://www.radio.cz/de/rubrik/tagesecho/vor-67-jahren-verschwand-die-tschechoslowakei-von-der-landkarte-europas (10.12.2019)

http://www.buergerimstaat.de/3_97/bis973i.htm (10.12.2019)

https://www.radio.cz/de/rubrik/geschichte/die-juedische-minderheit-in-den-1930er-jahren (10.12.2019)