Familie Berlowitz und Eichenbronner
Schillerstraße 17 und Paul-Schneider-Straße 4
1938 ist das Wendejahr. Wer kann, flüchtet ins Ausland. Die Wochen, die sie im Konzentrationslager sind, zeigen den während der Novemberpogrome verschleppten Juden, was sie erwartet, wenn sie nach ihrer Entlassung in Deutschland bleiben. So beschreibt Julius Katz aus Sontra seine Ankunft im Konzentrationslager Buchenwald:
„Plötzlich schrie ein Mann: ‚Ich habe für Deutschland gekämpft. Ich lag über vier Jahre an der Front. Ich bin deutscher Jude. 2 000 Jahre verfolgt man uns schon, und ihr wollt ein Kulturvolk sein!’ Man schleppte ihn zur Seite. Er bekam gleich eine Sonderbehandlung. 25 Stockschläge auf den nackten Hintern. Der Mann schrie, man hörte so richtig, wie der SS-Mann ausholte, die Luft schnitt mit dem Stock, daß es nur so pfiff … Ich dachte an Weimar, Buchenwald, Goethe. Ich begriff nichts mehr.“1
Ihnen soll nicht nur alles Eigentum genommen werden, es geht um das nackte Überleben. Unter den Häftlingen sind auch Israel Berlowitz und die Brüder Karl und Kurt Sachs. Die Familien Sachs und Berlowitz haben in Weimar etwas geschaffen, das die Nazis nur zu gern an sich reißen wollen: ein seit Jahrzehnten gut gehendes Kaufhaus im Zentrum der Stadt.
Eine Weimarer Erfolgsgeschichte: das Kaufhaus Sachs & Berlowitz
Um mit dem rund 13 Jahre jüngeren Israel Berlowitz die Idee eines Geschäfts für Damenkonfektion umsetzen zu können, zieht der 45-jährige Rudolf Sachs mit seiner Frau Flora und den sieben gemeinsamen Kindern 1899 von Bibra nach Weimar. In der Schillerstraße 17 findet sich ein geeignetes Gebäude, und die beiden Unternehmer eröffnen das Geschäft „Sachs & Berlowitz“ noch im selben Jahr. Es wird von den Weimarern gut angenommen, und Rudolf Sachs und Israel Berlowitz erweitern es bald zu einem Textilkaufhaus. 1911 erhält es an selber Stelle einen ansprechenden Neubau, entworfen von Bruno Röhr, der unter anderem auch für den Erweiterungsbau der Weimarer Kunsthochschule unter Henry van de Velde verantwortlich zeichnet.
Doch Israel Berlowitz und Rudolf Sachs beschränken ihre Tatkraft nicht auf den geschäftlichen Bereich, auch in religiöser Hinsicht sind sie aktiv. Sie stellen 1903 gemeinsam mit Sally Kaufmann, Albert Ortweiler und einigen weiteren Weimarern eine kleine jüdische Gemeinde auf die Beine: den Israelitischen Religionsverein. Dadurch wird gewährleistet, dass die Kinder jüdischen Religionsunterricht erhalten und die hohen Festtage in einem angemessenen Rahmen begangen werden können.
Israel und seine Frau Lucie bekommen zwei Töchter, Lena, 1903 geboren, und Edith, die 1907 folgt. Während die beiden Berlowitz-Mädchen noch auf die Schule gehen, bereitet Rudolf Sachs seinen ältesten Sohn Max auf die Leitung des Kaufhauses vor. Wohl noch während des Ersten Weltkriegs tritt Max die Nachfolge seines über sechzigjährigen Vaters an. Doch der Vater überlebt den Sohn: Max Sachs stirbt 1920, und seinen Platz bei Sachs & Berlowitz nimmt zunächst seine junge Witwe Ella ein. 1924, kurz vor ihrer Hochzeit mit Emil Fischer, gibt sie schließlich die Anteile der Familie Sachs an die Berlowitzens ab.
Familie Berlowitz führt das Geschäft von nun an unter Beibehaltung des Firmennamens „Sachs & Berlowitz“ allein weiter. Israel und seine Frau Lucie nehmen die 17- bzw. 21-jährigen Töchter Edith und Lena mit in die Geschäftsleitung auf. Lena heiratet Stefan Eichenbronner und bringt die Zwillinge Peter und Hans auf die Welt. Die Familie Eichenbronner zieht nach Gotha. Doch die Ehe zerbricht, und nach der Scheidung 1934 kehrt Lena mit den Kindern zurück nach Weimar.
Die Stufen der wirtschaftlichen „Entjudung“: Bedrohen – Erpressen – Ruinieren
Familie Berlowitz bringt das Kaufhaus sicher durch die Inflationszeit, und sogar 1937, als der Einkauf bei Sachs & Berlowitz ein politisches Statement ist, beschäftigt Familie Berlowitz 73 Kaufhaus-Angestellte und macht mit dem Geschäft einen Jahresumsatz von knapp einer Million Reichsmark.
Doch seit die Nazis an der Macht sind, häufen sich Aktionen wie die „Judenboykotte“, während derer mit öffentlicher Schmähung und Abbildung in der Zeitung bedroht wird, wer jüdisch geführte Geschäfte besucht. Auch die SA marschiert vor dem Kaufhaus in der Schillerstraße auf. Die Besitzer werden gedrängt, das gut gehende Geschäft zu verkaufen. „Entjudung“ bzw. „Arisierung“ heißt es im NS-Jargon, wenn jüdische Eigentümer genötigt werden, ihren Besitz, ihr Geschäft und ihr Vermögen an „Arier“ abzutreten. Der NS-Staat profitiert von der „Arisierungsabgabe“, und die Konkurrenz freut sich über ausgeschaltete Wettbewerber.
Im Frühjahr 1938 wird eine „Arisierungskommission“ des NS-Gauwirtschaftsberaters in Weimar eingerichtet. Der Druck auf Israel, seine Frau Lucie und Tochter Edith, sich vom Geschäft zurückzuziehen, nimmt stetig zu. Später erzählt Lucie Berlowitz von ihren damaligen Überlegungen: „Wir hatten ursprünglich die Absicht, das Geschäft zu verpachten, die Grundstücke unverkauft zu lassen, wurden jedoch von der Partei gezwungen, allen Grund u. Boden zu verkaufen“.2
Doch wie kann man jemanden dazu zwingen, im hohen Alter noch sein Lebenswerk aufzugeben?
Antisemitische Verordnungen unterstreichen die Nazis, indem sie drohen, und ihre Drohungen dringen bis in die Privatwohnungen jüdischer Geschäftsinhaber vor: So weist der Kommandant des Konzentrationslagers Buchenwald im März 1938 in einem Sonderbefehl an die im KZ beschäftigten SS-Mitglieder nicht nur auf die zu boykottierenden „jüdischen“ Geschäfte hin, er gibt auch die Privatadressen einiger Geschäftsinhaber bekannt:
„Auf folgende jüdischen Geschäfte in Weimar wird besonders aufmerksam gemacht:
1.) Schuhwarenhaus Geschw. Strauss Wielandstrasse 2
Inh. Berta Kahn, Weimar, Lottenstrasse 40.
2.) Kaufhaus Sachs & Berlowitz, Schillerstrasse 17
3.) Kurt Sachs, Textilwarengrosshandlung Jubiläumsplatz 2 Wohnung: Luthergasse 1.
4.) Julius Wiener, Vogtl. Gardinenhaus Adolf-Hitler-Str. 14
Wohnung: Meyerstrasse 13.
5.) Ludwig Leopold, Schuhwarenhaus Rittergasse 15.
6.) Hedwig Hetemann, Scherzartikelgeschäft,
Teichgasse 6. darin beschäftigt: Jude Fritz Straubing.
7.) Dr. Wiener, Zahnarzt, Adolf-Hitler-Str. 15
Sohn von Nr. 5.“3
Im Sommer 1938 schreibt der Reichsstatthalter dem Oberbürgermeister Weimars, dass „die Arisierung des jüdischen Kaufhauses Sachs & Berlowitz in Weimar im Gange“ sei. Der Bewerber habe noch über seine „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ Auskunft zu geben und „für sich und seine Ehefrau über die blutmässige Abstammung eine Erklärung abzugeben“.
Familie Berlowitz sieht sich gezwungen, dem Verkauf des Geschäfts unter Wert zuzustimmen:4 Am 31. August 1938 wechselt das Geschäft den Besitzer, am 5. Oktober nickt der Reichsstatthalter das Ganze ab.
Zuvor bezifferte eine niedrige Schätzung den Wert des Gebäudes, des Warenlagers und der Einrichtung mit 781.000 Reichsmark. Verkauft wird für 715.000 Reichsmark, wovon 75.000 Reichsmark als „Arisierungsabgabe“ an den NS-Gau gehen. Von den 640.000 Reichsmark, die Familie Berlowitz erhalten, wird sie nicht mehr als 6.000 RM sehen: Das meiste geht auf ein zwangsweise eingerichtetes Sperrkonto, auf welches sie nicht selbstbestimmt zugreifen können. Familie Berlowitz ist im Herbst 1938 um Hab und Gut gebracht.
Nachdem er dieses „Schnäppchen“ gemacht hat, gibt der neue Geschäftsführer Hugo Oxen dem Kaufhaus seinen Namen und bewirbt es in einer herzförmigen Anzeige mit dem Spruch „Einkaufshaus für alle im Herzen der Gauhauptstadt“.
Doch ist die Übernahme des Geschäfts offenbar noch nicht genug: Während der Reichspogromnächte im November 1938 verschleppt die Gestapo den siebzigjährigen Israel Berlowitz nach Buchenwald. Eine Weimarerin erinnert sich an eine Begegnung mit Lena Eichenbronner, Israels Tochter, die am Bahnhof mitansehen muss, wie er verladen wird:
„Nach der Pogromnacht traf ich Frau Eichenbronner beim Bahnhof, sie stand seitwärts und sagte: Jetzt bringen sie meinen Vater fort, man hat ihn schon zum Bahnhof gebracht. Ich sah, wie sie ihn auf einen Lastwagen luden und nach Buchenwald schafften.“5
Im KZ Buchenwald wird er einige Tage festgehalten – so lange, bis er einwilligt, auch sein Wohnhaus in der Carl-Alexander-Allee 3a (heute Freiherr-vom-Stein-Allee) zu verkaufen.
Eine Familie auf der Flucht
Nach seiner Entlassung beeilt sich Israel Berlowitz, zusammen mit seiner Frau Lucie alles Nötige für die Emigration nach Palästina vorzubereiten. In aller Schnelle verkaufen sie noch Ende Januar 1939 ihr Wohnhaus. Ihnen gelingt die Flucht nach Tel Aviv.
Auch die Töchter erkennen den Ernst der Lage: Tochter Lena verkauft ihr Haus in der Lottenstraße 10 und flüchtet danach mit ihren Söhnen zu einem Onkel nach Lettland. Edith verlässt Weimar ebenfalls, nachdem sie ihr Gartengrundstück an der Feodorastraße (heute Haeckelstraße) verkauft hat, und zieht Anfang 1940 zu Verwandten nach Berlin. Dort sucht sie nach einer Möglichkeit, ihren Eltern in die Emigration zu folgen. Ihr Plan sieht vor, zunächst nach Südafrika zu reisen und dort Bruno Löwenheim, einen entfernten Verwandten, zu heiraten. Dadurch würde sie ein englisches Visum für Palästina, das seit 1920 britisches Mandatsgebiet ist, erhalten. Jedoch erfährt sie in Capetown, dass Bruno kurz zuvor gestorben ist. In ihrer Verzweiflung beschließt sie, illegal nach Palästina zu reisen. Sie besteigt eines der drei Schiffe, die im November 1940, nach einer Überfahrt mit tausenden jüdischen Flüchtlingen aus Europa in Haifa anlegen.6 Doch verweigern die Briten den Passagieren der „Atlantic“, der „Pacific“ und der „Milos“ das Asyl in Palästina. Die Mandatsmacht sieht die Hilfesuchenden vor allem als Störfaktor, denn sie fürchtet um das jüdisch-arabische Gleichgewicht in der Region. Die Schiffe werden beschlagnahmt, die Flüchtlinge müssen die „Patria“ besteigen, ein Schiff, das sie nach Mauritius bringen soll. Es sind so viele, dass für den Umstieg mehrere Tage benötigt werden. Edith ist schon auf der „Patria“, als am Morgen des 25. November im Schiff ein Sprengsatz detoniert. Die zionistische Untergrundorganisation Hagana hat ihn eingeschmuggelt, um die „Patria“ zu beschädigen und so am Auslaufen zu hindern. Doch das alte Schiff sinkt innerhalb weniger Minuten, und mehr als 200 Menschen ertrinken. Edith Berlowitz ist unter den Geretteten. Sie wird für einige Monate ins Flüchtlingslager von Atlit bei Haifa verbracht.
Jene Flüchtlinge allerdings, die zum Zeitpunkt des Untergangs der „Patria“ noch auf der „Atlantic“ ausharren, werden abgeschoben. Das ihnen auferlegte Ziel: das mauritianische Zentralgefängnis bei Beau Bassin, in dem sie nun lange Jahre in einem Flüchtlingslager verbringen müssen. Erst zum Kriegsende wird ihnen doch noch die Einreise nach Palästina gewährt.
Edith muss sich nicht so lange gedulden, sie kann ihre Eltern 1941 wiedersehen. So bleiben ihnen noch ein paar gemeinsame Jahre, bevor Ediths Vater Israel Berlowitz im Juni 1945 stirbt.
Europa bietet keinen Schutz: Familie Eichenbronner und das Massaker von Libau
1941 bricht der Kontakt der Familie Berlowitz zu Lena, der älteren Tochter, die mit ihren Söhnen ins lettische Libau geflohen ist, ab. Es ist das Jahr, in dem die deutsche Wehrmacht in Lettland einmarschiert. Libau wehrt sich lange. Die Hafenstadt ist seit 1940 von der Roten Armee kontrolliert und eine Hochburg der lettischen Kommunisten. 7.000 Juden fürchten um ihr Leben, sollte die Stadt fallen. An den Kämpfen gegen die Wehrmacht beteiligen sich auch Zivilisten.
Am 29. Juni 1941 erobert die Wehrmacht Libau. Die ersten Erschießungen von Kommunisten, Juden und verbliebenen Rotarmisten folgen prompt. Erschießungen werden nun alltäglich, sie dauern an bis Mitte Dezember 1941, als im Norden der Stadt am Strand fast 3.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder von der Wehrmacht und lettischen Hilfseinheiten des deutschen Sicherheitsdienstes ermordet werden. Nur wenige der Libauer Juden überleben.
Lucie Berlowitz sagt im September 1946 über den Verbleib ihrer Tochter Lena und ihrer Enkel Hans und Peter:
„Ich habe seit der Besetzung Libaus durch die Deutschen im Jahre 1941 nicht mehr von ihr gehört. Es ist mir aber privat mitgeteilt worden, daß sie mit ihren Kindern das gleiche Schicksal erfahren hat, wie fast sämtliche Juden im dortigen Gebiet.“7
Über das Ende von Lenas Kindern, Hans und Peter, findet sich im Buch „Jüdische Familien in Weimar“ folgender Bericht:
„Als die deutschen Truppen einmarschierten, wurden die Juden zusammengetrieben. Man befahl ihnen, auf dem Marktplatz stehenzubleiben. Aber die beiden Jungen, die zufällig auf der anderen Seite waren, rannten über den Platz zu ihrer Mutter. Sie wurden dabei vor den Augen der Mutter erschossen. Lena selbst hat danach nicht mehr lange gelebt.“8
1 Stein/Müller: Familien, S. 125 ↩
2 Stein/Müller: Familien, S. 103 ↩
3 Gräfe: Gestapo, Bd. 2, S. 337 ↩
4 Gibas: „Arisierung“, Bd. 2, S. 324 ↩
5 Stein/Müller: Familien, S. 132 ↩
6 Über die Zustände auf den Schiffen gibt Jürgen Rohwer in „Jüdische Flüchlingsschiffe im Schwarzen Meer“, Abs. „Krieg im Mittelmeer“, Auskunft. Vgl. https://www.wlb-stuttgart.de/seekrieg/ksp/schwarzmeer/juden_flucht_schiffe.htm ↩
7 Stein/Müller: Familien, S. 105 f. ↩
8 Ebd., S. 106 ↩
Text: svdf
Quellen:
Monika Gibas (Hg.): Quellen zur Geschichte Thüringens, „Arisierung“ in Thüringen, Bd. II, Erfurt 2008, Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, S. 324
Marlis Gräfe u.a.: Quellen zur Geschichte Thüringens: Die Geheime Staatspolizei im NS-Gau Thüringen 1933–1945, Bd. II, Landeszentrale für politische Bildung, Erfurt 2008
Erika Müller, Harry Stein: Jüdische Familien in Weimar, Stadtmuseum Weimar 1998
Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, Land Thüringen – Ministerium der Finanzen Nr. 3846
Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, NS 4 Bu 33 Teil 1, Bl. 92r
http://www.spiegel.de/einestages/juden-auf-mauritius-a-948454.html (02.05.2016)
https://en.wikipedia.org/wiki/Patria_disaster (02.05.2016)
http://www.weimar-im-ns.de/ort26.php (02.05.2016)
http://www.wlb-stuttgart.de/seekrieg/ksp/schwarzmeer/juden_flucht_schiffe.htm (08.07.2019)
Weitere Literatur:
Ulrich Völkel (Hg.): Stolpersteingeschichten Weimar, Weimar 2016, Eckhaus-Verlag
Bildnachweis:
Die Schwarzweissfotografie gehört zur Sammlung Magdlung, diese kann hier eingesehen werden.