Ghettohäuser

Nach den Nürnberger Rassengesetzen, den Pogromen des 9./10. November 1938 und der Kennzeichnung mit dem gelben Stern 1941 war die Zusammendrängung der jüdischen Bevölkerung in Ghettohäuser die Vorstufe zur Deportation in die Vernichtungslager.

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschlechterte sich die Situation der noch in Weimar verbliebenen Juden weiter. Im September 1939 wurden durch die Gestapo die Radiogeräte eingezogen, Juden sollten „von jeglichem selbständigen Rundfunkempfang (auch dem inländischen) ausgeschlossen werden.“ Lebensmittelkarten für Juden wurden mit einem „J“ gekennzeichnet, sie bekamen wesentlich kleinere Rationen und keine Bekleidungskarten. Im Laufe des Krieges wurden diese Rationen weiter gekürzt, ab 1940 durfte nur noch an bestimmten Tagen, zu bestimmten Stunden und in bestimmten Geschäften eingekauft werden.
1941 erfolgte die Kennzeichnung jüdischer Menschen mit dem gelben Stern und die Zusammendrängung jüdischer Familien und Alleinstehender in so genannte Judenhäuser. Wie in anderen Städten auch erklärte die Gestapo Wohnhäuser aus jüdischem Besitz zu „Judenhäusern“ und wies dort die vorher aus ihren Wohnungen vertriebenen Juden ein. Zwei dieser „Judenhäuser“ befanden sich in der Belvederer Allee 6 und am Brühl 6, die als „offenes Ghetto“ von der Gestapo ständig überwacht und deren Bewohner ständig schikaniert wurden.

Vorbereitet wurde die Ghettoisierung der Weimarer Juden schon im Mai 1939. Die Thüringer Gauzeitung titelte „Juden heraus aus deutschen Wohnungen“ und forderte eine Trennung der jüdischen von der nichtjüdischen Bevölkerung. Hausgemeinschaften von Deutschen und Juden dürfte es nicht geben, wer nicht auswandern wolle, müsse in „jüdische Häuser“ untergebracht werden. Eine andere Propagandawelle leitete die Deportation der Juden ab Ende 1941 ein. Um an das Vermögen der zu Deportierenden zu gelangen, informierte die Weimarer Gestapo im März 1942 die Finanzbehörden: „In nächster Zeit sollen aus dem hiesigen Bezirk eine große Anzahl Juden nach dem Osten evakuiert werden …“

Das Ghettohaus Brühl 6
Das Haus am Brühl der Familien Ortweiler und Appel wurde 1894 vom Kaufmann Albert Ortweiler gekauft. In der unteren Etage befand sich ein Lederwarenhandel.
Eine Tochter der Familie Ortweiler heiratete 1920 Jakob Appel, Familie Appel führte das Geschäft weiter. Außer den beiden jüdischen Familien Appel und Ortweiler wohnten drei nichtjüdische Mietparteien im Brühl 6. In der obersten Etage wurden ab 1941 Angehörige aus insgesamt acht jüdischen Familien zusammengedrängt. Mitte 1941, nach dem Überfall auf die Sowjetunion, nahmen Bespitzelung und Terror gegen die jüdischen Menschen zu. Jede noch so kleinste „Verfehlung“ wurde seitens der Gestapo für Verhaftungen genutzt: Susanne Appel wurde im September 1941 wegen des Besitzes von Hühnereiern festgenommen und in das Arbeitserziehungslager Breitenau in Hessen gebracht. Von dort aus wurde sie in das Konzentrationslager Ravensbrück eingewiesen, kurze Zeit später nach Auschwitz verschleppt. Susanne Appel starb dort am 8. Oktober 1942.
Ab Mai 1942 begann in Weimar und Thüringen die schon lange geplante Deportation der Juden unter Leitung und Aufsicht der Gestapo in die Vernichtungslager. Zuvor in Listen mit ihrem Vermögen erfasst, mussten sich Weimarer und Thüringer Juden zu mitgeteilten Terminen im „Sammellager“ in der Reithalle
 des Marstalls einfinden, unter ihnen etwa 20 jüdische Kinder, Frauen und Männer aus dem Ghettohaus am Brühl. Am 10. Mai 1942 verließ dieser erste Transport mit insgesamt 342 jüdischen Menschen den Weimar Bahnhof in Richtung des Vernichtungslagers Belzyce.

Das Ghettohaus Belvederer Allee 6
Die Villa wurde 1900 von Prof. Friedrich Fleischer erworben, der mit Jenny Fleischer, geborene Alt, verheiratet war. Beide stammten aus jüdischen Familien, doch ließ sich Jenny Alt taufen. Als anerkannte Sängerin bekam sie Ende 1885 ein hoch dotiertes Engagement am Weimarer Theater.
Nach dem  Tod ihres Mannes Ende 1937 erbte Jenny Fleischer-Alt sein Vermögen, sie gehörte weiterhin zu den wenigen reichen Weimarer Juden. Im Haus und von Frau Fleischer versorgt, lebten ihre kranke Schwester Ilka Gál, ihre Nichte Edith Gál und vier Hausangestellte.
Nach einer angeordneten „Vermögenserklärung“ wurde Jenny Fleischer-Alt verpflichtet, ein „beschränkt verfügbares Sicherungskonto“ einzurichten. Anfangs durfte sie über 1 700 Reichsmark verfügen, womit die Aufwendungen für Haus und der im Haushalt lebenden Personen eingeschränkt abgedeckt werden konnte. 1940/41 wies die Gestapo Martha Kreiß, Käthe Friedländer und den Konzertmeister Eduard Rosé in das Haus ein, die als weitgehend Mittellose auch mit versorgt werden mussten.

Ein Erlass des Reichssicherheitshauptamtes Ende 1941 verbot Juden grundsätzlich die Verfügungsgewalt über ihre Konten und setzte den „Freibetrag“ auf einheitlich 150 Reichmark pro Monat fest. Zwar konnte dieser Betrag nicht sofort praktisch umgesetzt werden, zeigte aber deutlich die Entwicklung an. Kurze Zeit nach dem Tod von Ilka Gál nahmen sich Jenny Fleischer-Alt und ihre Nichte Edith Gál in Angst vor der Deportation das Leben. Auch von den anderen Bewohnern des Hauses überlebte niemand. Das Haus in der Belvederer Allee wurde ebenso wie das Haus am Brühl vom Rat der Stadt Weimar im Dezember 1943 „arisiert“.

Dr. Christiane Wolf, Jonny Thimm: Scanning Weimar, Orte der NS-Zeit, DVD, Weimar 2006