Nietzsche-Archiv

Friedrich Nietzsche ist einer der bedeutendsten Philosophen Europas. Durch eine verzerrte Auslegung seiner Werke erklärten ihn die Nationalsozialisten zu ihrem geistigen Vorbild und schufen in Weimar eine neue Kultstätte nationalsozialistischer Ideologie.
 Der Umstand, dass Nietzsche hier die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte, reichte ihnen zur Legitimation aus.

1897 zog Elisabeth Förster-Nietzsche mit ihrem Bruder Friedrich Nietzsche in die am Stadtrand gelegene „Villa Silberblick“ und pflegte dort den völlig auf ihre Hilfe angewiesenen, schwer erkrankten Philosophen. Friedrich Nietzsche, dessen geistige Umnachtung immer mehr fortschritt, verstarb hier am 25. August 1900 nach mehreren Schlaganfällen.

Zwei Jahre nach seinem Tod stattete der Architekt Henry van de Velde die erdgeschossigen Archivräume als Gedenkräume neu aus und wertete die Eingangsfront des Hauses durch einen repräsentativen Vorbau auf. Elisabeth machte es sich zur Aufgabe, die Werke ihres Bruders zusammenzutragen, zu archivieren und publizieren. Sie ging völlig in ihrer selbstentworfenen Rolle als Verwalterin der Arbeiten ihres Bruders auf und wandelte 1908 das Archiv in eine Stiftung um.
Mit Hilfe seiner Werke gelang es ihr, die Villa in einen zentralen gesellschaftlichen Treffpunkt zu verwandeln; 
alsbald verfügte sie über exzellente Beziehungen zu zahlreichen Persönlichkeiten des kulturellen Lebens.
Durch seine nationalsozialistische Instrumentalisierung erfuhr das Haus zweifelhafte Berühmtheit. Nach dem Tod Elisabeth Förster-Nietzsches 1935 arbeitete die Stiftung weiter. Nach 1945 war die Nietzsche-Villa als „Nietzsche-Archiv“ politisch nicht mehr gewollt; im Goethe-Schiller-Archiv lagert seither der handschriftliche Bestand des ehemaligen Nietzsche-Archivs, während die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek die Bibliothek und alle gebundenen Bände übernahm.
Zu DDR-Zeiten tabuisiert, blieb der Bevölkerung der Zugang zum Gebäude des Nietzsche-Archivs verwehrt. Erst nach einer detailverliebten Restaurierung sind die Erdgeschoßräume seit 1991 als Museum für die Öffentlichkeit zu besichtigen.

Elisabeth Förster-Nietzsche und ihr politisches Engagement

Im Tagebuch des Nietzsche-Archivs ist Hitlers Besuch am 20. Juli 1934 vermerkt. (GSA 72/1596, Foto: Klassik Stiftung Weimar)

Durch die Hochzeit mit Bernhard Förster, einem bekennenden Antisemiten, erntete Elisabeth Förster-Nietzsche die Verachtung ihres Bruders. Nach dem Ersten Weltkrieg, zu dessen Befürwortern sie gehörte, begann ihr politisches Interesse mehr und mehr zu wachsen. So engagierte sie sich in Organisationen wie der „Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene“, der „Arbeitsgemeinschaft der Völkischen Kultur“ und trat 1918 schließlich in die Deutschnationale Volkspartei ein.
Nachdem Adolf Hitler Wilhelm Frick 1930 zum reichsweit ersten Ministerposten
 eines NSDAP-Mitglieds verholfen hatte, baute jener im Wissen um ihre exzellenten gesellschaftlichen Kontakte eine freundschaftliche Beziehung zu Elisabeth Förster-Nietzsche auf. Dem damaligen thüringischen Innen- und Volksbildungsminister war
 so die Rückendeckung aus dem konservativen Bildungsbürgertum sicher.
Da Elisabeth Förster-Nietzsche Hitler hingegen anfangs als zu schwache Persönlichkeit einschätzte, um auch reichsweit großen politischen Erfolg zu haben, gelang es jenem vorerst nicht, sie für den deutschen Faschismus zu begeistern. Stattdessen korrespondierte sie regelmäßig mit Benito Mussolini. Bei der Uraufführung von Mussolinis Oper 1932 kam es schließlich doch zu einem Treffen zwischen der Nietzsche-Schwester und Hitler. Es stellte den Anfang einer Beziehung dar,
 die zumindest ihrerseits auf großer Bewunderung beruhte und die sich bis zu 
ihrem Tod 1935 fortsetzen sollte.

Nietzsche-Kult und der Bau der Gedenkhalle

Die Nietzsche-Gedächtnishalle: Perspektivaufnahme des Modells. (GSA 72/2610, Foto: Klassik Stiftung Weimar)

Elisabeth Förster-Nietzsche bearbeitete selektiv die Werke ihres Bruders, d.h. sie änderte die Anordnung von Texten und strich auch Passagen, die ihr entbehrlich erschienen. Editionsphilologisch bewegte sie sich damit auf der Höhe ihrer Zeit. Ihr werden allerdings auch tendenziöse Manipulationen vorgeworfen, die eine Annäherung der Gedanken Nietzsches an die Ideale des Nationalsozialismus suggerieren. Die Annäherung an den Faschismus fand aber vor allem auf persönlichem Gebiet statt: Förster-Nietzsche verehrte Mussolini, auch Hitler erwarb schließlich ihre Gunst. Beide Seiten nutzten die Werke zu ihrem Vorteil aus: Elisabeth rückte sich selbst ins Licht der Öffentlichkeit und profitierte von den finanziellen und den gesellschaftlichen Vorteilen der Popularität ihres Bruders. Für den Nationalsozialismus boten die Philosophie Nietzsches und die Unterstützung durch seine Schwester einige mehrdeutige Angriffspunkte: Nietzsches Begeisterung für 
„Kampf und Stärke“, die „Herrenmoral“, der „Übermensch“. Letzteres legten Nationalsozialisten als Bestärkung ihrer Theorie einer „Herrenrasse“ aus. Nietzsche jedoch sah nicht den Unterschied zwischen einzelnen Völkern, sondern zwischen mehr oder weniger wertvollen Individuen.
Auf die heute leider untrennbare Verbindung zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus hatte der Philosoph selbst keinen Einfluss mehr.
Die Frau, die diesen Missbrauch ermöglichte, wurde von dem NS-Reichsstatthalter und Gauleiter Thüringens Fritz Sauckel als „wahrhaft ideale deutsche Frau“ bezeichnet.
Adolf Hitler schuf mit einer Zuwendung von 50 000 RM die Grundlage für den Bau einer Nietzsche-Gedenkhalle, eines der bautechnischen Großprojekte eines inszenierten Klassikerkultes in Weimar. Der beauftragte systemkonforme Architekt und Leiter der Weimarer Bauhochschule, Paul Schultze-Naumburg, konnte die Halle auf dem Nachbargrundstück der Nietzsche-Villa allerdings nur teilweise realisieren.

Fotografie einer Sichtachse durch das fast fertiggestellte Gebäude. (GSA 72/2610, Foto: Klassik Stiftung Weimar)

Nach dem Tod Elisabeth Förster Nietzsches wurde die Gedächtnishalle zum Ort einer Sakralisierung des Nietzsche-Erbes. Der unvollendet gebliebene Bau dient seit 1946 als Funkhaus.

Fotografie vom Richtfest der Nietzsche-Gedächtnishalle, bei dem auch Gauleiter Sauckel und Goebbels anwesend waren. Die Inschrift lautet: “Nietzsche zum Gedächtnis – Erbaut unter Adolf Hitler – Im VI. Jahre des III. Reiches”. (GSA 72/2610, Foto: Klassik Stiftung Weimar)

Dr. Christiane Wolf, Jonny Thimm: Scanning Weimar, Orte der NS-Zeit, DVD, Weimar 2006 (mit Aktualisierungen einiger Passagen durch den Lernort Weimar e.V.)