Im Netz der Lager – und durch seine Lücken

Richard Kohlmann

Carl-von-Ossietzky-Straße 18

Ende Februar 1933 sind die Gefängnisse überfüllt: Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar werden tausende politische Gegner, vor allem Mitglieder der KPD und der SPD, verhaftet.
Um alle Häftlinge unterbringen zu können, werden ab März 1933 Turnhallen, Hotels, Zuchthäuser, Fabrikgebäude, sogar Klöster etc. zu provisorischen Gefangenenlagern umfunktioniert. Das erste Konzentrationslager des „Dritten Reichs“ entsteht in der paramilitärischen „Heimatschule“ auf dem Flugplatz von Nohra, westlich von Weimar. In den drei Sälen der obersten Etage sind zeitweise bis zu 220 Häftlinge – ausschließlich Thüringer Kommunisten – untergebracht.1
Innerhalb weniger Tage überzieht ein Netz von Lagern das Land. Sie zählen im März und April 1933 mehr als 45.000 Häftlinge und werden geleitet von SA oder SS, der Polizei, zum Teil auch staatlichen Verwaltungen. Einige der ersten, sogenannten wilden Lager werden – wie die Konzentrationslager Nohra und Plaue – nach einigen Monaten wieder aufgelöst, andere – wie die Konzentrationslager Sachsenburg und Esterwegen – haben mehrere Jahre Bestand. Schnell professionalisieren die Nazis das Lagersystem nach dem Vorbild des Konzentrationslagers Dachau, die SS übernimmt ab 1934 die alleinige Leitung. Die „wilden“ Lager werden zugunsten neu errichteter, systematisch strukturierter und wirtschaftlich in die Region eingebundener Lager aufgegeben.

Zu dieser neuen Generation von Lagern wird das KZ Buchenwald gehören, für dessen Aufbau sich 1936 Reichsstatthalter Sauckel und der Inspekteur der Konzentrationslager Eicke abstimmen. Bis 1937 suchen sie nach einem geeigneten Standort, der auch wirtschaftlichen Interessen entgegenkommt und z. B. Ton- und Lehmabbau ermöglicht. Im Frühjahr 1937 meldet die Landesbauernschaft Thüringens ihr Interesse an der Arbeitskraft von Häftlingen an und drängt darauf, eine baldige Entscheidung für den Nordhang des Ettersberges als Standort des Konzentrationslagers zu fällen: In direkter Nachbarschaft sind nicht nur Lehmvorkommen, sondern auch 5.000 Hektar Rübenfelder gelegen.2 So fällt die Wahl auf den Buchenwald nahe Weimar, im Folgejahr beginnen die Rodungsarbeiten. Die ersten Häftlinge kommen im Juli 1937 an, sie werden aus anderen Lagern überführt.

Einer von ihnen ist Richard Kohlmann. Ein Jahr zuvor wurde er von der Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Bad Sulza verschleppt. Über das KZ Lichtenburg gelangt er am 31. Juli 1937 nach Buchenwald.3

Quelle: Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Buchenwald, Signatur 01010503 oS, ITS Digital Archive, Arolsen Archives

Über ihn ist nur wenig bekannt: Am 3. August 1877 wurde er im sächsischen Lossa geboren, von Beruf ist er zunächst als Viehhändler, dann als Fleischer geführt. Im Weimarer Adressbuch von 1936 ist sein Name unter der Adresse Watzdorfstraße 18 (heute Carl-von-Ossietzky-Straße) im Bahnhofsviertel genannt.
Inhaftiert wurde Richard Kohlmann, weil er in Opposition zum Regime steht. In Buchenwald wird er als „politischer Häftling“ geführt. Die genauen Umstände seiner Verhaftung sind nicht bekannt, doch kann „politischer Häftling“ zu sein bedeuten, dass er Mitglied einer inzwischen verbotenen Partei ist, sich kritisch über politische Belange geäußert oder Verfolgten geholfen hat. Denn Mitmenschlichkeit und kritisches Denken werden als Bedrohung für das totalitäre System aufgefasst und bestraft.
Verdächtig macht sich schon, wer sich dem NS-Jargon verweigert und mit „Guten Tag“ statt mit „Heil Hitler“ grüßt, wer politische Witze macht oder unkonventionelle Kleidungsstile und Zeitvertreibe pflegt – wie es die Swing-Jugend und die Edelweißpiraten tun. Wer darüber hinaus Juden und anderen „Gemeinschaftsfremden“ gegenüber hilfsbereit ist oder, während der Kriegsjahre, die „Feindsender“ hört, um verlässliche Informationen über den Kriegsverlauf zu bekommen, riskiert „Schutzhaft“.
Diese „Schutzhaft“ bedeutet die Einweisung in ein Konzentrationslager.

Quelle: Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Buchenwald, Signatur 01010503 oS, ITS Digital Archive, Arolsen Archives

Richard Kohlmann wird Ende April 1937 zunächst ins KZ Lichtenburg eingewiesen. Ende Juli wird er ins KZ Buchenwald überstellt und muss beim Aufbau des Lagers helfen – also eines Instruments jenes Terrors, den er bekämpft. Die Häftlinge übernehmen den Bau der Kanalisation und Stromleitungen, der Häftlingsbaracken und SS-Unterkünfte, der Wege, Plätze und Straßen, deren Material sie im Steinbruch des Lagers abbauen.4

Von allen Konzentrationslagern hat Buchenwald in den Jahren des Aufbaus, 1937–1939, die höchste Sterberate. Auch der sechzigjährige Richard Kohlmann hält die Strapazen nicht lange aus. Nur wenige Kilometer von seinem Zuhause entfernt, erliegt er am 22. August 1937, lediglich 3 Wochen nach seiner Inhaftierung, einer Lungenentzündung. Er ist der erste Weimarer, der im KZ Buchenwald stirbt. Er hinterlässt seine Frau Emma.

Quelle: Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Buchenwald, Signatur 01010503 oS, ITS Digital Archive, Arolsen Archives

Buchenwald wird sich zu einem der größten Konzentrations- und Arbeitslager des Dritten Reichs entwickeln, hier werden mehr als 56.000 Menschen ermordet. Ist es in den dreißiger Jahren primär die politische Opposition, die verfolgt wird, konzentrieren sich die Nazis ab 1941 vor allem darauf, die jüdische Bevölkerung in die Vernichtungslager auf polnischem und weißrussischem Gebiet zu deportieren. Im KZ Buchenwald schuften während des Krieges Zwangsarbeiter aus mehr als dreißig Ländern für die Rüstungsindustrie.

Nach Richard Kohlmann nehmen noch viele für ihre politischen oder ethischen Überzeugungen und Taten das Risiko von Schutzhaft und Konzentrationslager auf sich. Beziffern lässt sich der vielfältige Widerstand und sein „Erfolg“ kaum; Leben können nicht verrechnet werden. Und doch gibt es Zahlen, die zeigen, dass Widerstand gegen das NS-System möglich ist: In Deutschland und den deutsch besetzten Gebieten überleben trotz eines engmaschigen Überwachungssystems etwa 5.000 als Juden Verfolgte in Verstecken und dank Lebensmitteln, die beherzte Helfer zur Verfügung stellen.

1 Vgl. Udo Wohlfeld: Nohra, in: Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933–1945, Bd. 1, hg. v. Geoffrey P. Megargee, United States Holocaust Memorial Museum, Bloomington: Indiana University Press 2009 S. 140 ff.

2 Vgl. Harry Stein: Konzentrationslager Buchenwald, Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, Göttingen 1999, Wallstein, S. 27

3 Vgl. ebd., S. 25 ff.

4 Ebd., S. 31

Text: svdf

Quellen:
Harry Stein: Konzentrationslager Buchenwald, Begleitband zur ständigen historischen Ausstellung, Göttingen 1999, Wallstein
Udo Wohlfeld: Nohra, in: Encyclopedia of Camps and Ghettos 1933–1945, Bd. 1, hg. v. Geoffrey P. Megargee, United States Holocaust Memorial Museum, Bloomington: Indiana University Press 2009, S. 140 ff.
Adressbuch Weimar 1936, Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar
Adressbuch Weimar 1941/32, Thüringische Landesbibliothek Jena, vgl.  https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00235189/AbW_1939-1940_g080.TIF?logicalDiv=log000012 (11.11.2019)

https://www.buchenwald.de/72/ (05.05.2016)
https://publikative.org/2013/03/04/das-ns-lagersystem-inventur-des-grauens/ (05.05.2016)
https://www.bpb.de/izpb/10400/verweigerung-im-alltag-und-widerstand-im-krieg (05.05.2016)
https://www.kiga-berlin.org/Dokumentationen/auschwitz/Pages/hi03.html (05.05.2016)
https://www.deutschlandfunk.de/ueber-helfer-und-retter-zur-zeit-der-ns-diktatur.1148.de.html?dram:article_id=180705 (05.05.2016)
https://collections.arolsen-archives.org/search/people/6305057/?p=1&s=Richard%20Kohlmann&s_lastName=asc (18.11.2019)

Weitere Literatur:

Ulrich Völkel (Hg.): Stolpersteingeschichten Weimar, Weimar 2016, Eckhaus-Verlag