Ausweglosigkeiten

Eine Frau hat Mut

Sie durfte kein Abitur ablegen, nicht studieren, keinem Verein beitreten, weder wählen noch gewählt werden, sie musste ihren Mann um Erlaubnis bitten, erwerbstätig zu sein, und sie musste sich täglich in luftabschnürende Korsetts zwängen. Männer sind Geschäftsinhaber und Oberhaupt der Familie, Frauen sind Hausfrauen, Mütter und Zuverdienerinnen (bei schlechterer Bezahlung für gleiche Arbeit). Als unverheiratete „Fräuleins“ gelten sie weniger als jede Ehefrau oder Witwe.
Die 1857 im polnischen Lissa geborene Hulda Lewkowitz bringt diese gesellschaftliche Erwartung nicht davon ab, ein Schuhgeschäft in der Weimarer Jakobstraße 33 zu eröffnen und als dessen Inhaberin aufzutreten. Sie wohnt mit ihrem Mann Benjamin in Erfurt, wo sie ebenfalls einen Laden – im Adressbuch 1908 als „Bazar für Gelegenheitskäufe“ geführt – betreibt. Ihrer Tochter Elfriede überlässt sie nicht nur das Weimarer Schuhgeschäft, sondern gibt ihr offenbar auch ihren Sinn für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit mit auf den Weg.

Elfriede Leopold vor ihrem Schuhladen, den sie zuletzt in der Rittergasse 15 führte. (© Sammlung Müller/Stein, Stiftung Buchenwald)

Elfriede bringt den Laden heil durch den ersten Weltkrieg, der sie – wenige Jahre nach der Hochzeit – zur Witwe macht. Der Schuhladen trägt noch viele Jahre den Namen ihres ersten Mannes: S. Alexander. Elfriedes Geschäft steht das Krisenjahr 1923 und die Weltwirtschaftskrise 1929 durch, den Weimarern ist der Schuhwarenladen Alexander längst ein Begriff.

Anzeige aus dem Adressbuch 1921/22: Der Schuhwarenladen wechselt über die Jahre immer wieder seine Adresse. Anfang der zwanziger Jahre war er in der Bürgerschulstraße (heute: Karl-Liebknecht-Straße) zu finden.

Als ihrem zweiten Mann, Ludwig Leopold, 1934 ein aufsehenerregender und rufzerstörender Prozess gemacht wird, lässt sie sich von ihm scheiden, bezahlt die Scheidung, finanziert aber auch seine Verteidigung. Sie rappelt sich wieder auf, eröffnet das Geschäft neu und hält sich, ihre Tochter Helene und ihre Mutter finanziell über Wasser.
Doch der Aufforderung zur „Arisierung“ kann sie nur Tränen und Bitten entgegensetzen. Einen ideologisch gefestigten NS-Gauwirtschaftsberater rühren keine Tränen, und die Frage, was aus Familie Leopold werden soll, wenn sie ihre Einkommensquelle verliert, prallt ab an der gleichgültigen Pflichterfüllung des Bürokraten.

1938 wird in einem “Sonderbefehl” vom Lagerkommandanten Koch des KZ Buchenwald u.a. auf das Schuhgeschäft von Elfriede Leopold aufmerksam gemacht – dieses sei von den im KZ Buchenwald beschäftigten SS-Angehörigen zu boykottieren. Die Liste erfasst nicht nur “jüdisch” geführte Geschäfte, sondern gibt auch Auskunft über einige Privatadressen. (LATh – HStA Weimar, NS 4 Bu 33 Teil 1, Bl. 92r)

Zwang zur „Arisierung“

Die Protokolle der Verhandlungen mit dem Gauwirtschaftsberater Knorr zeichnen nach, wie dieser den Zwangsverkauf in die Wege leitet: Nachdem sie einen Brief von ihm erhalten hat, in dem behauptet wird, man habe von ihrer geplanten „Arisierung“ des Schuhgeschäfts erfahren, kommt Elfriede Leopold „ganz außer Fassung“ in Knorrs Büro. Dieser protokolliert: „Frau Leopold bekommt im Verlaufe der Verhandlung öfter einen Weinanfall, da sie angeblich nicht weiss, wie sie dann den Rest ihres Lebens verbringen soll, wenn sie keinerlei Einkommen mehr habe.“1

Blick vom Herderplatz in die Rittergasse, um 1900. Mitte der dreißiger Jahre befindet sich das Leopoldsche Schuhgeschäft noch am Herderplatz 4 (ganz links im Bild), dann zieht es um in die Rittergasse 15 (hinten im Nebel; beim Bombenangriff vom 9. Februar 1945 total zerstört).

Elfriede Leopold schildert die wirtschaftliche Not, in die sie mit dem Prozess um ihren Mann und die Ehescheidung geraten ist: Allein Ludwigs Verteidigung hat 1.500 RM gekostet. In einem späteren Brief an Knorr erläutert sie die Unkosten, die mit der Scheidung einhergingen:

„Bei der Scheidung von meinem früheren Mann wollten seine Geschwister die uns in früheren Jahren nach und nach geliehenen Beträge von mir zurückgezahlt haben. Ich verpflichtete mich dazu mit der Massgabe, dass aus diesen Mitteln L. L. bis zu seiner Ausreise, die damals sofort in die Wege geleitet wurde, und das Fahrgeld dazu bezahlt würde. Damit waren die Geschwister einverstanden und haben es auch so gehalten.“
2
Den letzten Standort des Geschäfts am Herderplatz 4 musste sie aufgeben. Nun verkauft sie nicht nur Schuhe in der Rittergasse 15 – sie hat ihre Wohnung in der Kohlstraße aufgegeben und wohnt mit ihrer Mutter Hulda Lewkowitz und Tochter Helene neben dem Geschäft. Der Verkauf des Ladens ließe sie „ohne jegliche Mittel“3 zurück, vor Verzweiflung droht sie Knorr mit ihrem Freitod.

Dieser allerdings „bedauert“ nicht etwa ihre verzweifelte Lage, sondern dass sie sie nicht längst schon von selbst herbeigeführt habe: Aus seinen Zeilen spricht die Erwartung, Elfriede Leopold möge all ihre Energie aufwenden, um ihren eigenen finanziellen Ruin herbeizuführen. Er gibt ihr eine Frist von zwei Wochen, nach der sie genaue Vorschläge zur „Arisierung“ ihres Geschäfts zu liefern hat.
Nach dem Gespräch notiert er seine „Folgerung“ im Protokoll:

„Wenn Frau Leopold trotz der Scheidung ihrem Mann Geld gibt, damit dieser nach Argentinien entweichen kann, so stammt dieses Geld aus dem Geschäftsvermögen und es läßt den Schluß zu, daß Frau Leopold dann weiter arbeitet, um sich weiteres Vermögen zusammenzuscharren, um dann evtl. ihrem Mann wieder nachfolgen zu können.“4

Die Wortwahl lässt erkennen, wie sehr er in der nationalsozialistischen Ideologie beheimatet ist: Elfriede Leopold beschreibt er nicht als Menschen, sondern als „scharrendes“ Tier.

Mit einer letzten Bitte, nicht „arisieren“ zu müssen, wendet sich Elfriede Leopold kurz vor Ablauf der genannten Frist erneut an den Gauwirtschaftsberater. Sie schreibt:

„Wie Sie nun aus meinen Ausführungen ersehen können, habe ich meine bescheidene Existenz mit allen geldlichen Mitteln, aber auch mit dem Einsatz meiner seelischen und körperlichen Kraft aufrecht erhalten. Wenn ich dieselbe jetzt abgeben muss, so liege ich mit meiner 81jährigen Mutter […] auf der Strasse, auch meine 18jährige Tochter, die jetzt in Stellung ist, kann jeden Tag brotlos werden, und wohin soll sie dann? Wer wird mich als 51jährige Frau beschäftigen, zumal nur Juden in Frage kommen, die sich zum grossen Teil keine Angestellten mehr halten können? […] Wo soll ich bloß hin? Ist es denn wirklich nicht möglich, dass meiner Lage Rechnung getragen wird?“5

Ihre ausweglose Lage wird durchaus berücksichtigt: Sie ist willentlich herbeigeführt. Elfriede Leopold wird eine zweite Frist bis Anfang Juni gegeben.

Eine weitere Aktennotiz von Knorr vom 29. Juli illustriert, wie bei der Gauwirtschaftsberatung gearbeitet wird:

LATh – HStA Weimar, NSDAP Gau Thüringen Nr. 45, Bl. 8r

„Am 29. vormittags 10 Uhr ruft Pg. [Parteigenosse] Deibel an und erkundigt sich, ob das jüdische Geschäft Julius Wiener frei wird, bezw. der Laden durch einen arischen Schuhhändler besetzt werden kann. Ich erkläre ihm, daß Wiener arisiert wird und infolgedessen der Laden nicht zu haben ist. Dagegen verweise ich ihn auf den Laden der Elfriede Leopold, weil es sich hier um ein Schuhgeschäft handelt. Pg. Deibel verspricht, den betreffenden Interessenten mit Herrn Direktor Peters in Verbindung zu bringen und mir dann schnellstens Bescheid zuzustellen.“6

Ende August verkauft Elfriede Leopold ihren Schuhladen für 10.600 RM – den bloßen Wert seines Warenlagers und der Einrichtung – an einen „Parteigenossen und Hoheitsträger“.7

Seite 2 und 3 des “Arisierungsfragebogens” vom Amt des Gauwirtschaftsberaters (LATh – HStA Weimar, NSDAP Gau Thüringen Nr. 45, Bl. 20r und 21v)

Elfriede Leopold verlässt Weimar und zieht mit ihrer Mutter Hulda nach Leipzig. Wovon sie nun leben, ist nicht bekannt.

Frühe Ausgrenzung

Im selben Jahr emigriert ihre erst neunzehnjährige Tochter Helene in die USA. In New York holt sie an einer Abendschule die Bildung nach, die ihr in Weimar verwehrt wurde: Das Sophienstift-Gymnasium muss sie – die einzige jüdische Schülerin – aufgrund ihrer Religion 1933 vorzeitig verlassen, 1936, nach drei Jahren, wiederholt sich das Prozedere an der Handelsaufbauschule: Der Direktor „bittet“8 ihre Mutter Elfriede Leopold, sie von der Schule zu nehmen, da sie – wieder – „die einzige jüdische Schülerin der Anstalt“ sei. Ohne Schulabschluss hilft Helene daraufhin im Laden ihrer Mutter aus.

Freilich hatte ihr Sonderstatus als einzige jüdische Schülerin einen Grund: Nach und nach mussten alle jüdischen Kinder die Schule verlassen. Joachim Appel berichtet, im selben Jahr von seinem Lehrer vor der versammelten Klasse als „Saujud“ beschimpft und beleidigt worden zu sein. Der Weigerung des Lehrers, ihn zu unterrichten, folgte Joachims Schulabgang.

Doch werden aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossene Kinder nicht nur durch ihren erzwungenen Schulabgang beschämt – schon zuvor wird der Unterricht für sie zum Spießrutenlauf. Heinz Eisenbruch, der als „Mischling“ galt und in Weimar bis 1939 die Schule besuchte, berichtet:

„Ich weiß noch ganz genau, wie wieder einmal in der Schule über das ‘verbrecherische Weltjudentum’ agitiert wurde. Mein Kapitel Schule war von meiner Seite aus gesehen düster. Jahrelang mußte ich Hänseleien […] ertragen. Anspucken und Fußtritte durch Mitschüler waren periodenhaft zu ertragen. […] Ich war heilfroh, 1939 die Schule verlassen zu können. Es war noch irgendwie vorgesehen, eine Schulklasse mit jüdischen Kindern einzurichten. Es kam deshalb nicht dazu, weil keine Kinder vorhanden waren.“9
Die jüdischen Kinder und Jugendlichen Weimars verlassen Deutschland, wenn möglich: Wie auch Helene Leopold flüchtet Joachim Appel in die USA. Gerhard und Hans Albrecht Sachs emigrieren nach Argentinien, Hans und Peter Eichenbronner fliehen mit ihrer Mutter Lena nach Lettland. Jene, die nicht selbst ermordet werden, sehen ihre Eltern nicht wieder.

Am Pranger der Medien

Die Rede vom „verbrecherischen Weltjudentum“ sucht Helene Leopold auf besonders schmerzliche Weise heim. Ihrem Vater Ludwig Leopold, der seit 1919 das Schuhgeschäft gemeinsam mit Elfriede führt, wird im Winter 1934 der Prozess gemacht. Im Verlauf der Verhandlung wird Helenes Familie zum Angriffsziel einer reichsweiten Schmutzkampagne, angeführt vom auflagenstärksten antisemitischen Hetzblatt des „Dritten Reichs“, dem „Stürmer“.

Das Landgericht Weimar um 1930.

Vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Weimar ist Ludwig Leopold wegen „sittlicher Verfehlungen an seinem Personal“ und „strafbarer Gepflogenheiten in geschäftlichen Dingen“10 angeklagt. Der Angeklagte, der aus Honnef bei Köln stammt, bestreitet dies und spricht von rheinländischen „harmlosen Späßen“. Sein Prozess findet öffentlich statt und erregt großes mediales Aufsehen. Entsprechend ist schon beim Auftakt „der Zuhörerraum […] stark überfüllt“.

Ludwig Leopold (© Sammlung Müller/Stein, Stiftung Buchenwald)

Schon zu Beginn der Verhandlung wird Leopold an den Pranger der Presse gestellt: Ein Journalist schwingt sich zum Richter auf und fordert: „Sollte sich auch nur ein Teil der Anklage bestätigen, so ist hier die schwerste Strafe am Platze.“11

Leopold selbst sieht sich als Jude angegriffen, der Vorsitzende Richter hingegen beharrt darauf, dass das Verfahren nichts mit seiner „Rassezugehörigkeit“ zu tun habe. Der Staatsanwalt Desczyk pflichtet ihm bei: „Bei uns wird Recht gesprochen ohne Ansehung der Rassezugehörigkeit“, fügt dann aber ohne Gespür für argumentativen Widersinn – aber ganz im Einklang mit der Propaganda des „Stürmers“ – hinzu: „[Der Angeklagte] hat offenbar eine anormale geschlechtliche Veranlagung; zu ihrer Erklärung muss man wahrscheinlich seine Rassezugehörigkeit heranziehen.“12
Den Wahrheitsgehalt seiner Worte zur Überparteilichkeit der Justiz rücken ein paar Lebensdaten des Staatsanwalts Desczyk ins rechte Licht: Hanns-Georg Desczyk ist seit 1931 in Weimar als Staatsanwaltschaftsrat tätig, 1936 wird er zu Weimars Erstem Staatsanwalt befördert. Zur Zeit der Leopold-Verhandlung ist er förderndes Mitglied der SS, 1937 tritt er der NSDAP bei. 1938 attestiert ihm der Weimarer Oberstaatsanwalt Seesemann eine „einwandfreie“ politische Haltung, die er „schon vor der Machtübernahme durch Bearbeitung politischer Prozesse bewiesen“ habe. Er habe in Weimar „alle politischen Verfahren, die gerade hier in größerer Zahl durch seine Hände gingen, unter vorbehaltlosem Einsatz für das Dritte Reich durchgeführt und auch sonst in seiner dienstlichen Tätigkeit nationalsozialistische Gedanken vertreten.“13

Desczyk folgt in seiner Arbeit dem Hitlerschen Gebot, das dieser schon in seiner Regierungserklärung 1933 ankündigt: „Unser Rechtswesen muß in erster Linie der Erhaltung der Volksgemeinschaft dienen. […] Nicht das Individuum kann der Mittelpunkt der gesetzlichen Sorge sein, sondern das Volk.“14 – Die Justiz hat sich in den Dienst der NS-Politik zu stellen, welche festlegt, wer zur „Volksgemeinschaft“ gehört und wer nicht.
Eine stete Erinnerung an diese Aufgabe liefert ihr die Presse.

Die Anklage wegen „gewerbepolizeilicher Verfehlungen“ wird im weiteren Verlauf fallengelassen. Doch ist, unabhängig von der Frage nach der Stichhaltigkeit der Vorwürfe, die Verhängung einer schweren Strafe wegen „Sittlichkeitsverbrechen“ wohl unumgänglich, der Prozess ist längst ein politischer geworden: Ludwig Leopold wird in zwei Einzelfällen freigesprochen, doch wegen sittlicher Straftaten in drei Fällen, einer tätlichen Beleidigung und drei wörtlicher Beleidigungen wird er zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust15 verurteilt.

Als der Verurteilte mit „guten Aussichten“,16 dieses Urteil zu Fall zu bringen, in die Revision beim Reichsgericht geht, wird die mediale Kampagne intensiviert: Im Januar 1935 bleiben auf dem Karlsplatz an der Hauptpost immer wieder Passanten stehen, um im „Stürmer-Kasten“17 die Schlagzeile zu lesen: „Jud L. Leopold – Der Kinderschänder in Weimar“.18
Das von Julius Streicher herausgebrachte antisemitische Hetzblatt bringt mit Vorliebe und in sprachlich schlichtem Stil verfasste Skandalgeschichten über „Rassenschande“. Die Artikel bedienen sich pornographischer Bilder und Berichte und appellieren an die Sensationslust und den Voyeurismus ihrer Leserschaft.
Fünf Wegminuten vom Schaukasten entfernt befindet sich das Leopoldsche Schuhgeschäft.

In Streichers Hetzblatt wird Ludwig Leopold zum Erfüller nationalsozialistischer Klischees über „den Juden“. Wo Anklagen wegen unsittlicher Berührung der Waden von Angestellten, von „Umfassen“, „Umarmen“, „Tätscheln“ und „Ohrfeigen“ verhandelt werden, spricht der Leitartikel des „Stürmers“ zum Leopold-Prozess von „Kinderschändung“, dem „satanischen Vernichtungswillen“ der Juden, von der „jüdischen Weltdiktatur“ und von einem „stillen, aber grauenhaften Krieg gegen deutsches Blut“. Während das Blatt „dem Juden“ „Sinnengier und Geilheit“ vorwirft, bedient es bei seinen Lesern beides wöchentlich mit expliziten Berichten über „Rassenschande“.

Kurz darauf findet die Revisionsverhandlung statt. Am 12. Februar 1935 bringt die Thüringische Staatszeitung die Meldung „Jud Leopold wandert nun ins Zuchthaus“ und verweist ihre Leserschaft auf den Artikel der Januarausgabe des „Stürmers“. Das Reichsgericht bestätigt Leopolds Verurteilung zu Zuchthaus und Ehrverlust.
Ein Nebeneffekt des Skandalprozesses: Die Ehe der Leopolds zerbricht, das Schuhgeschäft geht ein.

Der Entlassung folgt die Ermordung

Ludwig Leopold wird in das Zuchthaus Untermaßfeld im Thüringer Wald verbracht. Es ist nicht in Gänze nachvollziehbar, was nach dem Strafvollzug passiert. Sicher ist, dass er sich um eine Auswanderungsmöglichkeit bemüht – Elfriede Leopold erwähnt dem Gauwirtschaftsberater gegenüber Argentinien; auf einem Antrag, den Leopold im Mai 1941 an die Polizeidirektion in Prag stellt, ist als Ziel Schanghai vermerkt. Das zur Auswanderung nötige polizeiliche Führungszeugnis der Prager Polizeidirektion bescheinigt ihm, dass sie „hierorts“ gegen ihn „nichts strafbares vorgefunden“ hätten. Zu der Zeit lebt er nicht weit von der aus Weimar geflohenen Familie Eisenbruch entfernt, in der Schwerinova 36.
Nach Schanghai wird Ludwig Leopold nicht mehr gelangen. Sieben Monate nach seiner Antragstellung, am 30. November 1941, bringt ihn ein Deportationszug nach Theresienstadt. Dort hält er zwei Jahre durch, bis er im Dezember einen Transport 1943 nach Auschwitz besteigen muss. Am Ende der Gleise von Auschwitz verliert sich seine Spur.

Auch Elfriede Leopold wird in einem Konzentrationslager ermordet: In Leipzig besteigt sie den Deportationszug, der im Mai 1942 viele Thüringer Jüdinnen und Juden ins Ghetto Belzyce bringt. Am 21. August desselben Jahres stirbt sie im Vernichtungslager Majdanek.
Ihrer hochbetagten Mutter bleibt die Deportation erspart: Sie stirbt einen Tag nach dem Tod ihrer Tochter Elfriede, am 22. August 1942, im Jüdischen Alten- und Pflegeheim von Leipzig.

1 LATh–HStAW, MdF 3845

2 Ebenda.

3 Ebenda.

4 Ebenda.

5 LATh–HStAW, MdF 3845

6 Ebenda.

7 Ein „Hoheitsträger“ ist ein höherer Parteiführer.

8 Müller/Stein: Familien, S. 120

9 Vortrag von Heinz Eisenbruch für das VI. Kolloquium zum antifaschistischen Widerstandskampf 1933-1945 in Berlin, Sammlung Eisenbruch

10 Allgemeine Landeszeitung, 14.12.1935

11 Weimarische Zeitung, 15.12.1934

12 Die Zitate sind einem Artikel der Weimarischen Zeitung vom 15.12.1934 entnommen. Direkt unterhalb fällt eine kurze Meldung ins Auge des Lesers: „Ein Kommunist vor Gericht – Vor dem Thüringischen Sondergericht hatte sich am Freitag der Angeklagte Wallmüller aus Weimar zu verantworten, weil er allerlei Lügen gegen den Nationalsozialismus verbreitet und kommunistische Propaganda getrieben hatte. Seine Straftaten wurden als hochverräterisches Beginnen aufgefaßt und die Sache an das Volksgericht zur Aburteilung überwiesen.“ Auch beim Sondergericht war Desczyk beschäftigt (vgl. “Meyer macht’s” in: Der Spiegel, 11.5.1950: http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/44448276) Sondergerichte brauchten keinerlei rechtsstaatlichen Prinzipien zu folgen: Auf gerichtliche Voruntersuchungen wurde verzichtet, die Vernehmungen mussten nicht protokolliert werden, eine Berufung war nicht möglich, stattdessen wurde rasch zur Vollstreckung der Urteile geschritten. So entledigten sich die Nazis in den dreißiger Jahren rasch ihrer politischen Gegner. (Vgl. Ministerium für Justiz und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt, Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt (Hg.): Justiz im Nationalsozialismus. Über Verbrechen im Namen des Deutschen Volkes – Sachsen-Anhalt, Broschüre zur Ausstellung, 2013)

13 Zinn: Aus dem Volkskörper entfernt?, S. 515. Desczyk tut sich insbesondere bei der Verfolgung Homosexueller in Weimar hervor. Seine nationalsozialistische Überzeugung behindert seine Karriere im westlichen Nachkriegsdeutschland nicht. Er behauptet, „von je her ein überzeugter Demokrat“ gewesen zu sein, und wird 1949 zum Ersten Staatswalt in Stuttgart ernannt. Vgl. Alexander Zinn: Aus dem Volkskörper entfernt?, S. 516 und 611.

14 Vgl. http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/61055/justiz-im-dritten-reich?p=all

15 Wer seine bürgerlichen Ehrenrechte verliert, darf nicht mehr wählen oder gewählt werden und keine öffentlichen Ämter ausüben.

16 Müller/Stein: Familien, S. 117

17 Sogenannte Stürmer-Kästen waren im ganzen Reich verbreitet, sie zeigten die aktuelle Ausgabe des „Stürmer“. Diese öffentlichen Schaukästen wurden an vielfrequentierten Ort – sogar auf Schulhöfen – angebracht und mit antisemitischen Parolen versehen.

18 Der Stürmer, Januar 1935, Nr. 2, S. 1

19 Vgl. https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/159709-leopold-ludvik-vysvedceni-zachovalosti/

Text: svdf

Quellen:

Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar, NSDAP Gau Thüringen Nr. 45
Erika Müller, Harry Stein: Jüdische Familien in Weimar, Stadtmuseum Weimar 1998
Briefe von Helene Lieselotte Rothschild, Sammlung Harry Stein
Alexander Zinn: Aus dem Volkskörper entfernt?, Frankfurt am Main 2018
Siegfried Wolf: Juden in Thüringen 1933–1945, Bd. 1 und 2 sowie Ergänzungen und Korrekturen, Erfurt, Europäisches Kultur- und Informationszentrum
Michael H. Kater: Weimar: From Enlightenment to the Present, London 2014, Yale University Press

Adressbücher für die Stadt Weimar 1910 bis 1937
Adressbücher für die Stadt Erfurt 1901 bis 1908

Allgemeine Landeszeitung, 14.12.1934
Weimarische Zeitung, 14.12.1934 und 15.12.1934
Der Stürmer, Januarausgabe 1935, Nr. 2
Thüringische Staatszeitung, 12.2.1935

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http://www.weimar-im-ns.de/ort18.php (letzter Zugriff am 30.9.19)

http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/weisse-rose/61055/justiz-im-dritten-reich?p=all (letzter Zugriff am 30.9.19)

https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/159709-leopold-ludvik-vysvedceni-zachovalosti/ (letzter Zugriff am 30.9.19)

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Bildnachweis:

Die Schwarzweissfotografien der Rittergasse und des Gerichtsgebäudes gehören zur Sammlung Magdlung, diese kann hier eingesehen werden.